[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 8. Zürich, 1743.Schreiben an Hrn. Zunkel soll ich dich grüssen? Er giebt dieses in derThat nicht anders, sagte Hr. Tulipe, und wa- rum sollte ers anders geben, das ist der eigent- liche Verstand dieser Wörter. Wolltet ihr wohl begehren, daß man bey einer Uebersetzung bey allen Redensarten des Originales bleiben, und solche gleichwohl nach Hrn. Schwartzens Art, Zeile von Zeile in gereimte Verse bringen soll- te? Das wäre eine physicalische Unmöglichkeit; denn die Natur der Sprache litte solches nicht; es wäre auch würklich abgeschmackt und un- gereimt, wenn man überall der Lateiner Re- densarten behalten wollte. Es hat ja jede Sprache ihren besondern Nachdruck, welchen man Genium linguae nennet. Hr. Jonquilie er- wiederte: Niemand sagt, daß man das Latein von Wort zu Wort geben müsse, wie man jedes im Wörterbuche nach seiner ersten und flüchtig- sten Bedeutung verdeutschet findet; sondern man muß die Jdee von einem jeden mit aller Genauig- keit und Bestimmung in ihrem rechten Maasse und Grade liefern. Glaubet ihr nun, daß man die Virgilianischen Redensarten nicht ge- nauer und nachdrücklicher geben könne, als Hr. Schwartz gethan hat, woferne man von der Na- tur der deutschen Sprache nicht abweichen, und nicht abgeschmackt werden wollte? Würde es nicht schon Virgilianischer tönen, und doch Deutsch blei- ben, wenn ich sagte: Jch muß endlich scheiden; die thauigte Nacht hält ihren Lauf an dem mitt- lern Theile des Himmels, ich verspüre schon die scharfe Luft des ankommenden Morgens, der mich mit
Schreiben an Hrn. Zunkel ſoll ich dich gruͤſſen? Er giebt dieſes in derThat nicht anders, ſagte Hr. Tulipe, und wa- rum ſollte ers anders geben, das iſt der eigent- liche Verſtand dieſer Woͤrter. Wolltet ihr wohl begehren, daß man bey einer Ueberſetzung bey allen Redensarten des Originales bleiben, und ſolche gleichwohl nach Hrn. Schwartzens Art, Zeile von Zeile in gereimte Verſe bringen ſoll- te? Das waͤre eine phyſicaliſche Unmoͤglichkeit; denn die Natur der Sprache litte ſolches nicht; es waͤre auch wuͤrklich abgeſchmackt und un- gereimt, wenn man uͤberall der Lateiner Re- densarten behalten wollte. Es hat ja jede Sprache ihren beſondern Nachdruck, welchen man Genium linguæ nennet. Hr. Jonquilie er- wiederte: Niemand ſagt, daß man das Latein von Wort zu Wort geben muͤſſe, wie man jedes im Woͤrterbuche nach ſeiner erſten und fluͤchtig- ſten Bedeutung verdeutſchet findet; ſondern man muß die Jdee von einem jeden mit aller Genauig- keit und Beſtimmung in ihrem rechten Maaſſe und Grade liefern. Glaubet ihr nun, daß man die Virgilianiſchen Redensarten nicht ge- nauer und nachdruͤcklicher geben koͤnne, als Hr. Schwartz gethan hat, woferne man von der Na- tur der deutſchen Sprache nicht abweichen, und nicht abgeſchmackt werden wollte? Wuͤrde es nicht ſchon Virgilianiſcher toͤnen, und doch Deutſch blei- ben, wenn ich ſagte: Jch muß endlich ſcheiden; die thauigte Nacht haͤlt ihren Lauf an dem mitt- lern Theile des Himmels, ich verſpuͤre ſchon die ſcharfe Luft des ankommenden Morgens, der mich mit
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Schreiben an Hrn. Zunkel
ſoll ich dich gruͤſſen? Er giebt dieſes in der
That nicht anders, ſagte Hr. Tulipe, und wa-
rum ſollte ers anders geben, das iſt der eigent-
liche Verſtand dieſer Woͤrter. Wolltet ihr wohl
begehren, daß man bey einer Ueberſetzung bey
allen Redensarten des Originales bleiben, und
ſolche gleichwohl nach Hrn. Schwartzens Art,
Zeile von Zeile in gereimte Verſe bringen ſoll-
te? Das waͤre eine phyſicaliſche Unmoͤglichkeit;
denn die Natur der Sprache litte ſolches nicht;
es waͤre auch wuͤrklich abgeſchmackt und un-
gereimt, wenn man uͤberall der Lateiner Re-
densarten behalten wollte. Es hat ja jede
Sprache ihren beſondern Nachdruck, welchen
man Genium linguæ nennet. Hr. Jonquilie er-
wiederte: Niemand ſagt, daß man das Latein
von Wort zu Wort geben muͤſſe, wie man jedes
im Woͤrterbuche nach ſeiner erſten und fluͤchtig-
ſten Bedeutung verdeutſchet findet; ſondern man
muß die Jdee von einem jeden mit aller Genauig-
keit und Beſtimmung in ihrem rechten Maaſſe
und Grade liefern. Glaubet ihr nun, daß
man die Virgilianiſchen Redensarten nicht ge-
nauer und nachdruͤcklicher geben koͤnne, als Hr.
Schwartz gethan hat, woferne man von der Na-
tur der deutſchen Sprache nicht abweichen, und
nicht abgeſchmackt werden wollte? Wuͤrde es nicht
ſchon Virgilianiſcher toͤnen, und doch Deutſch blei-
ben, wenn ich ſagte: Jch muß endlich ſcheiden;
die thauigte Nacht haͤlt ihren Lauf an dem mitt-
lern Theile des Himmels, ich verſpuͤre ſchon die
ſcharfe Luft des ankommenden Morgens, der mich
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