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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743.

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für die epische Poesie.
Gemüthe nothwendig hervorbringen. Leute, wel-
che mit Regierungsgeschäften viel umgegangen
sind, wissen am besten, was vor Veränderungen
die Zucht, Pflege, und Auferziehung hervorbrin-
gen können, und sind nicht erstaunt, wann sie
sehen, wie die Menschen mittelst derselben gleich-
sam neugestaltet, und seltsamer verwandelt wer-
den, als durch die Zauberkünste der Urganda und
der Circe.

Junge Gemüther können von den Umständen des
Landes, worinnen sie gebohren und auferzogen
werden, so starcke Eindrüke empfangen, daß sie
eine gewisse Aehnlichkeit mit diesen Umständen an
sich nehmen, und die Merkmale der Lebensart, wel-
che sie durchlaufen haben, mit sich tragen. Ein
Mensch der grosses Unglük gehabt hat, ist von
einem, der alle seine Lebenstage in voller Wohl-
farth zugebracht hat, leicht zu unterscheiden; und
eine Person, die bey der Arbeit auferzogen wor-
den, hat ein gantz anders Aussehen als eine an-
dere, die im Müssiagang und in Wollüsten alt
worden ist. Beydes unser Verstand und unsre
Aufführung führen das Gepräge unsers beson-
dern Amtes, Standes, und unserer Begegnisse;
und wie eine adeliche Auferziehung einen Edelmann,
und eine bäurische einen Landmann formiert, also
empfinden unsre Gemüther und Sitten gleicher-
gestalt den Einfluß, den der Lauf unsers Lebens auf
sie thut. Jn dieser Betrachtung dürften die Um-
stände, welche die grösten Würkungen auf uns zu
haben scheinen, aus folgenden bestehen.

Erst-
A 3

fuͤr die epiſche Poeſie.
Gemuͤthe nothwendig hervorbringen. Leute, wel-
che mit Regierungsgeſchaͤften viel umgegangen
ſind, wiſſen am beſten, was vor Veraͤnderungen
die Zucht, Pflege, und Auferziehung hervorbrin-
gen koͤnnen, und ſind nicht erſtaunt, wann ſie
ſehen, wie die Menſchen mittelſt derſelben gleich-
ſam neugeſtaltet, und ſeltſamer verwandelt wer-
den, als durch die Zauberkuͤnſte der Urganda und
der Circe.

Junge Gemuͤther koͤnnen von den Umſtaͤnden des
Landes, worinnen ſie gebohren und auferzogen
werden, ſo ſtarcke Eindruͤke empfangen, daß ſie
eine gewiſſe Aehnlichkeit mit dieſen Umſtaͤnden an
ſich nehmen, und die Merkmale der Lebensart, wel-
che ſie durchlaufen haben, mit ſich tragen. Ein
Menſch der groſſes Ungluͤk gehabt hat, iſt von
einem, der alle ſeine Lebenstage in voller Wohl-
farth zugebracht hat, leicht zu unterſcheiden; und
eine Perſon, die bey der Arbeit auferzogen wor-
den, hat ein gantz anders Ausſehen als eine an-
dere, die im Muͤſſiagang und in Wolluͤſten alt
worden iſt. Beydes unſer Verſtand und unſre
Auffuͤhrung fuͤhren das Gepraͤge unſers beſon-
dern Amtes, Standes, und unſerer Begegniſſe;
und wie eine adeliche Auferziehung einen Edelmann,
und eine baͤuriſche einen Landmann formiert, alſo
empfinden unſre Gemuͤther und Sitten gleicher-
geſtalt den Einfluß, den der Lauf unſers Lebens auf
ſie thut. Jn dieſer Betrachtung duͤrften die Um-
ſtaͤnde, welche die groͤſten Wuͤrkungen auf uns zu
haben ſcheinen, aus folgenden beſtehen.

Erſt-
A 3
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[5/0005] fuͤr die epiſche Poeſie. Gemuͤthe nothwendig hervorbringen. Leute, wel- che mit Regierungsgeſchaͤften viel umgegangen ſind, wiſſen am beſten, was vor Veraͤnderungen die Zucht, Pflege, und Auferziehung hervorbrin- gen koͤnnen, und ſind nicht erſtaunt, wann ſie ſehen, wie die Menſchen mittelſt derſelben gleich- ſam neugeſtaltet, und ſeltſamer verwandelt wer- den, als durch die Zauberkuͤnſte der Urganda und der Circe. Junge Gemuͤther koͤnnen von den Umſtaͤnden des Landes, worinnen ſie gebohren und auferzogen werden, ſo ſtarcke Eindruͤke empfangen, daß ſie eine gewiſſe Aehnlichkeit mit dieſen Umſtaͤnden an ſich nehmen, und die Merkmale der Lebensart, wel- che ſie durchlaufen haben, mit ſich tragen. Ein Menſch der groſſes Ungluͤk gehabt hat, iſt von einem, der alle ſeine Lebenstage in voller Wohl- farth zugebracht hat, leicht zu unterſcheiden; und eine Perſon, die bey der Arbeit auferzogen wor- den, hat ein gantz anders Ausſehen als eine an- dere, die im Muͤſſiagang und in Wolluͤſten alt worden iſt. Beydes unſer Verſtand und unſre Auffuͤhrung fuͤhren das Gepraͤge unſers beſon- dern Amtes, Standes, und unſerer Begegniſſe; und wie eine adeliche Auferziehung einen Edelmann, und eine baͤuriſche einen Landmann formiert, alſo empfinden unſre Gemuͤther und Sitten gleicher- geſtalt den Einfluß, den der Lauf unſers Lebens auf ſie thut. Jn dieſer Betrachtung duͤrften die Um- ſtaͤnde, welche die groͤſten Wuͤrkungen auf uns zu haben ſcheinen, aus folgenden beſtehen. Erſt- A 3

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung07_1743/5>, abgerufen am 22.11.2024.