Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741.

Bild:
<< vorherige Seite
der Critik bey den Deutschen.
"uns nicht mehr Witz als den Moscoviten zuer-
"kannt hat. Unterdessen so gehet man so weit
"nicht, um dem von Lohenstein zu nahe zu tre-
"ten. Man vergißt gern seine Fehler, wegen
"seiner anderwärtigen herrlichen Tugenden. Man
"hat es nur mit denen zu thun, die dessen Tugenden
"nicht erkennen, und sich allein an dessen Fehler
"halten, dieselben zu ihrer Richtschnur im Schrei-
"ben sezen, und wenn sich jemand findet, der
"aus keinem Neide des Poeten, sondern bloß
"allein zu Beföderung der deutschen Poesie diesel-
"ben anmerket; sich gleich thörigter Weise ein-
"bilden, man hätte einem König nach seiner Krone
"gegriffen. Glaubet man in der That, daß die
"Poesie mit der Zauberkunst eine gleiche Grund-
"feste habe? Und bildet man sich ein, daß man
"den Unverstand, so wie das Fieber mit nichtsbe-
"deutenden Worten und Zeichen vertreiben kön-
"ne?"

Dergleichen Leute gab es würcklich.

Postel, dessen Singspiele damahls in dem
Hamburgischen Opernhause erschalleten, konnte
Hoffmannswaldaus und Lohensteins Schreibart
nicht verurtheilet sehen, ohne zu begreiffen, daß
ihm ein gleiches Urtheil wie denselben gesprochen
wäre. Seine Gelahrtheit war so groß, als Lo-
hensteins, sein Witz nicht geringer, aber wegen
Mangel an Urtheilskraft eben so ausschweifend.
Wenn Wernike von einer Muse redete,

Die in ein Spinngeweb das Bild der Dichtkunst prägt,
Die Marmor und Albast aus Brust und Händen haut,
Die Edelstein und Stern aus ihrer Feder sprizt,
Die in dem Aug Achat, in Thränen Perlen findt,
Und aus den Disteln Zeug der Lust zum Schlafrock spinnt,
so
[Crit. Samml. II. St.] H
der Critik bey den Deutſchen.
„uns nicht mehr Witz als den Moſcoviten zuer-
„kannt hat. Unterdeſſen ſo gehet man ſo weit
„nicht, um dem von Lohenſtein zu nahe zu tre-
„ten. Man vergißt gern ſeine Fehler, wegen
„ſeiner anderwaͤrtigen herrlichen Tugenden. Man
„hat es nur mit denen zu thun, die deſſen Tugenden
„nicht erkennen, und ſich allein an deſſen Fehler
„halten, dieſelben zu ihrer Richtſchnur im Schrei-
„ben ſezen, und wenn ſich jemand findet, der
„aus keinem Neide des Poeten, ſondern bloß
„allein zu Befoͤderung der deutſchen Poeſie dieſel-
„ben anmerket; ſich gleich thoͤrigter Weiſe ein-
„bilden, man haͤtte einem Koͤnig nach ſeiner Krone
„gegriffen. Glaubet man in der That, daß die
„Poeſie mit der Zauberkunſt eine gleiche Grund-
„feſte habe? Und bildet man ſich ein, daß man
„den Unverſtand, ſo wie das Fieber mit nichtsbe-
„deutenden Worten und Zeichen vertreiben koͤn-
„ne?„

Dergleichen Leute gab es wuͤrcklich.

Poſtel, deſſen Singſpiele damahls in dem
Hamburgiſchen Opernhauſe erſchalleten, konnte
Hoffmannswaldaus und Lohenſteins Schreibart
nicht verurtheilet ſehen, ohne zu begreiffen, daß
ihm ein gleiches Urtheil wie denſelben geſprochen
waͤre. Seine Gelahrtheit war ſo groß, als Lo-
henſteins, ſein Witz nicht geringer, aber wegen
Mangel an Urtheilskraft eben ſo ausſchweifend.
Wenn Wernike von einer Muſe redete,

Die in ein Spinngeweb das Bild der Dichtkunſt praͤgt,
Die Marmor und Albaſt aus Bruſt und Haͤnden haut,
Die Edelſtein und Stern aus ihrer Feder ſprizt,
Die in dem Aug Achat, in Thraͤnen Perlen findt,
Und aus den Diſteln Zeug der Luſt zum Schlafrock ſpinnt,
ſo
[Crit. Sam̃l. II. St.] H
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <cit>
            <quote><pb facs="#f0115" n="113"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Critik bey den Deut&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
&#x201E;uns nicht mehr Witz als den Mo&#x017F;coviten zuer-<lb/>
&#x201E;kannt hat. Unterde&#x017F;&#x017F;en &#x017F;o gehet man &#x017F;o weit<lb/>
&#x201E;nicht, um dem von Lohen&#x017F;tein zu nahe zu tre-<lb/>
&#x201E;ten. Man vergißt gern &#x017F;eine Fehler, wegen<lb/>
&#x201E;&#x017F;einer anderwa&#x0364;rtigen herrlichen Tugenden. Man<lb/>
&#x201E;hat es nur mit denen zu thun, die de&#x017F;&#x017F;en Tugenden<lb/>
&#x201E;nicht erkennen, und &#x017F;ich allein an de&#x017F;&#x017F;en Fehler<lb/>
&#x201E;halten, die&#x017F;elben zu ihrer Richt&#x017F;chnur im Schrei-<lb/>
&#x201E;ben &#x017F;ezen, und wenn &#x017F;ich jemand findet, der<lb/>
&#x201E;aus keinem Neide des Poeten, &#x017F;ondern bloß<lb/>
&#x201E;allein zu Befo&#x0364;derung der deut&#x017F;chen Poe&#x017F;ie die&#x017F;el-<lb/>
&#x201E;ben anmerket; &#x017F;ich gleich tho&#x0364;rigter Wei&#x017F;e ein-<lb/>
&#x201E;bilden, man ha&#x0364;tte einem Ko&#x0364;nig nach &#x017F;einer Krone<lb/>
&#x201E;gegriffen. Glaubet man in der That, daß die<lb/>
&#x201E;Poe&#x017F;ie mit der Zauberkun&#x017F;t eine gleiche Grund-<lb/>
&#x201E;fe&#x017F;te habe? Und bildet man &#x017F;ich ein, daß man<lb/>
&#x201E;den Unver&#x017F;tand, &#x017F;o wie das Fieber mit nichtsbe-<lb/>
&#x201E;deutenden Worten und Zeichen vertreiben ko&#x0364;n-<lb/>
&#x201E;ne?&#x201E;</quote>
          </cit>
          <p>Dergleichen Leute gab es wu&#x0364;rcklich.</p><lb/>
          <p>Po&#x017F;tel, de&#x017F;&#x017F;en Sing&#x017F;piele damahls in dem<lb/>
Hamburgi&#x017F;chen Opernhau&#x017F;e er&#x017F;challeten, konnte<lb/>
Hoffmannswaldaus und Lohen&#x017F;teins Schreibart<lb/>
nicht verurtheilet &#x017F;ehen, ohne zu begreiffen, daß<lb/>
ihm ein gleiches Urtheil wie den&#x017F;elben ge&#x017F;prochen<lb/>
wa&#x0364;re. Seine Gelahrtheit war &#x017F;o groß, als Lo-<lb/>
hen&#x017F;teins, &#x017F;ein Witz nicht geringer, aber wegen<lb/>
Mangel an Urtheilskraft eben &#x017F;o aus&#x017F;chweifend.<lb/>
Wenn Wernike von einer Mu&#x017F;e redete,</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Die in ein Spinngeweb das Bild der Dichtkun&#x017F;t pra&#x0364;gt,</l><lb/>
            <l>Die Marmor und Alba&#x017F;t aus Bru&#x017F;t und Ha&#x0364;nden haut,</l><lb/>
            <l>Die Edel&#x017F;tein und Stern aus ihrer Feder &#x017F;prizt,</l><lb/>
            <l>Die in dem Aug Achat, in Thra&#x0364;nen Perlen findt,</l><lb/>
            <l>Und aus den Di&#x017F;teln Zeug der Lu&#x017F;t zum Schlafrock &#x017F;pinnt,</l>
          </lg><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig">[Crit. Sam&#x0303;l. <hi rendition="#aq">II.</hi> St.] H</fw>
          <fw place="bottom" type="catch">&#x017F;o</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[113/0115] der Critik bey den Deutſchen. „uns nicht mehr Witz als den Moſcoviten zuer- „kannt hat. Unterdeſſen ſo gehet man ſo weit „nicht, um dem von Lohenſtein zu nahe zu tre- „ten. Man vergißt gern ſeine Fehler, wegen „ſeiner anderwaͤrtigen herrlichen Tugenden. Man „hat es nur mit denen zu thun, die deſſen Tugenden „nicht erkennen, und ſich allein an deſſen Fehler „halten, dieſelben zu ihrer Richtſchnur im Schrei- „ben ſezen, und wenn ſich jemand findet, der „aus keinem Neide des Poeten, ſondern bloß „allein zu Befoͤderung der deutſchen Poeſie dieſel- „ben anmerket; ſich gleich thoͤrigter Weiſe ein- „bilden, man haͤtte einem Koͤnig nach ſeiner Krone „gegriffen. Glaubet man in der That, daß die „Poeſie mit der Zauberkunſt eine gleiche Grund- „feſte habe? Und bildet man ſich ein, daß man „den Unverſtand, ſo wie das Fieber mit nichtsbe- „deutenden Worten und Zeichen vertreiben koͤn- „ne?„ Dergleichen Leute gab es wuͤrcklich. Poſtel, deſſen Singſpiele damahls in dem Hamburgiſchen Opernhauſe erſchalleten, konnte Hoffmannswaldaus und Lohenſteins Schreibart nicht verurtheilet ſehen, ohne zu begreiffen, daß ihm ein gleiches Urtheil wie denſelben geſprochen waͤre. Seine Gelahrtheit war ſo groß, als Lo- henſteins, ſein Witz nicht geringer, aber wegen Mangel an Urtheilskraft eben ſo ausſchweifend. Wenn Wernike von einer Muſe redete, Die in ein Spinngeweb das Bild der Dichtkunſt praͤgt, Die Marmor und Albaſt aus Bruſt und Haͤnden haut, Die Edelſtein und Stern aus ihrer Feder ſprizt, Die in dem Aug Achat, in Thraͤnen Perlen findt, Und aus den Diſteln Zeug der Luſt zum Schlafrock ſpinnt, ſo [Crit. Sam̃l. II. St.] H

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung02_1741
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung02_1741/115
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung02_1741/115>, abgerufen am 03.05.2024.