[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.eines Kunstrichters. das sind Wercke, worinnen nichts just und regel-mässig ist, ein glänzendes Chaos, ein wilder Haufen von Einfällen. Es gehet den Poeten wie den Malern. Wenn sie nicht geschickt genug sind, die nackte Natur, und lebendige Annehm ich- keiten zu bilden, so bedecken sie alles mit Gold und Edelsteinen, und verbergen ihre Schwäche un- ter einem Haufen von Zierrathen. Aechte Schön- heiten in Schriften sind nichts als die Natur zu ihrem Vortheil gekleidet. (g) Etwas, das man oft gedacht, aber nie sowohl ausgedrückt hat- te, dessen Wahrheit wir beym ersten Anblike empfinden. Ein Wiederschein der Bilder unse- rer eigenen Seele. Wie der Schatten das Licht angenehmer macht, so wird durch eine sittsa- me Einfalt die Lebhaftigkeit des Wizes erhöhet. Dann ein Werck kan auch mehr Geist haben, als ihm gut ist, gleichwie der Ueberfluß an Blut einem Leibe verderblich fällt. Andere bekümmern sich allein um die Spra- Gau- (g) Naturam intueamur, hanc sequamur. Id facil- lime accipiunt animi, quod agnoscunt. Quintil. lib. 8. c. 3. [Crit. Samm.] E
eines Kunſtrichters. das ſind Wercke, worinnen nichts juſt und regel-maͤſſig iſt, ein glaͤnzendes Chaos, ein wilder Haufen von Einfaͤllen. Es gehet den Poeten wie den Malern. Wenn ſie nicht geſchickt genug ſind, die nackte Natur, und lebendige Annehm ich- keiten zu bilden, ſo bedecken ſie alles mit Gold und Edelſteinen, und verbergen ihre Schwaͤche un- ter einem Haufen von Zierrathen. Aechte Schoͤn- heiten in Schriften ſind nichts als die Natur zu ihrem Vortheil gekleidet. (g) Etwas, das man oft gedacht, aber nie ſowohl ausgedruͤckt hat- te, deſſen Wahrheit wir beym erſten Anblike empfinden. Ein Wiederſchein der Bilder unſe- rer eigenen Seele. Wie der Schatten das Licht angenehmer macht, ſo wird durch eine ſittſa- me Einfalt die Lebhaftigkeit des Wizes erhoͤhet. Dann ein Werck kan auch mehr Geiſt haben, als ihm gut iſt, gleichwie der Ueberfluß an Blut einem Leibe verderblich faͤllt. Andere bekuͤmmern ſich allein um die Spra- Gau- (g) Naturam intueamur, hanc ſequamur. Id facil- lime accipiunt animi, quod agnoſcunt. Quintil. lib. 8. c. 3. [Crit. Sam̃.] E
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eines Kunſtrichters.
das ſind Wercke, worinnen nichts juſt und regel-
maͤſſig iſt, ein glaͤnzendes Chaos, ein wilder
Haufen von Einfaͤllen. Es gehet den Poeten wie
den Malern. Wenn ſie nicht geſchickt genug
ſind, die nackte Natur, und lebendige Annehm ich-
keiten zu bilden, ſo bedecken ſie alles mit Gold und
Edelſteinen, und verbergen ihre Schwaͤche un-
ter einem Haufen von Zierrathen. Aechte Schoͤn-
heiten in Schriften ſind nichts als die Natur zu
ihrem Vortheil gekleidet. (g) Etwas, das
man oft gedacht, aber nie ſowohl ausgedruͤckt hat-
te, deſſen Wahrheit wir beym erſten Anblike
empfinden. Ein Wiederſchein der Bilder unſe-
rer eigenen Seele. Wie der Schatten das Licht
angenehmer macht, ſo wird durch eine ſittſa-
me Einfalt die Lebhaftigkeit des Wizes erhoͤhet.
Dann ein Werck kan auch mehr Geiſt haben,
als ihm gut iſt, gleichwie der Ueberfluß an Blut
einem Leibe verderblich faͤllt.
Andere bekuͤmmern ſich allein um die Spra-
che, und ſchaͤtzen die Buͤcher, wie manches Frau-
enzimmer die Maͤnner, nur nach dem Aufputze.
Jhr Lobſpruch heißt immer: Die Schreibart iſt
vortrefflich. Die Gedanken nehmen ſie in De-
muth ſtets fuͤr gerechte Wahre. Jnzwiſchen ſind
doch die Worte wie das Laub: Wo ſie zu haͤuf-
fig ſind, da findet man ſelten viel Fruͤchte des
Verſtandes darunter. Eine falſche Beredſam-
keit ſpreitet, wie ein dreyekichtes Glas, ihre
Gau-
(g) Naturam intueamur, hanc ſequamur. Id facil-
lime accipiunt animi, quod agnoſcunt. Quintil. lib. 8. c. 3.
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