[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.eines Kunstrichters. damit ihren ganzen Zwek auf einmal erreichen.Also vergnüget unser Auge zum öftern ein Gegen- stand in der Ferne, der von der gemeinen Ord- nung der Natur auch abweichet; ein hangender Berg, ein ungeformter Felsen. Doch ist in der Dichtkunst allezeit eine Sorgfalt und mitten im Poetischen Rasen eine Bescheidenheit nöthig. Ha- ben gleich die Alten ihre Regeln gebrochen, (wie Könige über Gesetze dispensieren, die sie selbst ge- geben,) so hütet euch doch dafür ihr neuere. Oder wenn ihr ja ein Gesetze überschreiten müsset, so überschreitet doch niemals seinen Endzwek. Thut es selten, und nur aus Noth gezwungen, zum wenigsten aber nicht ohne Vorgänger, auf die ihr euch beziehen könnt. Sonst macht euch die Critik ohne einiges Bedencken den Proceß und greift vermöge ihrer Gesetze auf euren Ruf und Na- men. Jch weis wohl, es giebt einbildische Geister, die für
eines Kunſtrichters. damit ihren ganzen Zwek auf einmal erreichen.Alſo vergnuͤget unſer Auge zum oͤftern ein Gegen- ſtand in der Ferne, der von der gemeinen Ord- nung der Natur auch abweichet; ein hangender Berg, ein ungeformter Felſen. Doch iſt in der Dichtkunſt allezeit eine Sorgfalt und mitten im Poetiſchen Raſen eine Beſcheidenheit noͤthig. Ha- ben gleich die Alten ihre Regeln gebrochen, (wie Koͤnige uͤber Geſetze diſpenſieren, die ſie ſelbſt ge- geben,) ſo huͤtet euch doch dafuͤr ihr neuere. Oder wenn ihr ja ein Geſetze uͤberſchreiten muͤſſet, ſo uͤberſchreitet doch niemals ſeinen Endzwek. Thut es ſelten, und nur aus Noth gezwungen, zum wenigſten aber nicht ohne Vorgaͤnger, auf die ihr euch beziehen koͤnnt. Sonſt macht euch die Critik ohne einiges Bedencken den Proceß und greift vermoͤge ihrer Geſetze auf euren Ruf und Na- men. Jch weis wohl, es giebt einbildiſche Geiſter, die fuͤr
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eines Kunſtrichters.
damit ihren ganzen Zwek auf einmal erreichen.
Alſo vergnuͤget unſer Auge zum oͤftern ein Gegen-
ſtand in der Ferne, der von der gemeinen Ord-
nung der Natur auch abweichet; ein hangender
Berg, ein ungeformter Felſen. Doch iſt in der
Dichtkunſt allezeit eine Sorgfalt und mitten im
Poetiſchen Raſen eine Beſcheidenheit noͤthig. Ha-
ben gleich die Alten ihre Regeln gebrochen, (wie
Koͤnige uͤber Geſetze diſpenſieren, die ſie ſelbſt ge-
geben,) ſo huͤtet euch doch dafuͤr ihr neuere. Oder
wenn ihr ja ein Geſetze uͤberſchreiten muͤſſet, ſo
uͤberſchreitet doch niemals ſeinen Endzwek. Thut
es ſelten, und nur aus Noth gezwungen, zum
wenigſten aber nicht ohne Vorgaͤnger, auf die
ihr euch beziehen koͤnnt. Sonſt macht euch die
Critik ohne einiges Bedencken den Proceß und
greift vermoͤge ihrer Geſetze auf euren Ruf und Na-
men.
Jch weis wohl, es giebt einbildiſche Geiſter, die
dergleichen freyere Schoͤnheiten auch in den Alten
fuͤr Fehler halten. Aber viele Bilder ſcheinen un-
formlich und misgeſtaltet, wenn man ſie Stuͤck-
weiſe oder zu nahe betrachtet, denen doch eine be-
hoͤrige Entfernung Form und Schoͤnheit giebt, im
fall ſie nur nach Licht und Stelle vernuͤnftig pro-
portionirt ſind. Ein kluger Feldherr muß ſeine
Voͤlcker nicht allezeit in regelmaͤſſige Haufen und
zierliche Ordnung ſtellen, ſondern ſich nach dem
Platze und der Gelegenheit richten. Er verbirgt
zuweilen ſeine Staͤrke und ſcheinet wol gar zu flie-
hen. Und ſo iſt es oft eine Kriegsliſt, was wir
fuͤr
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