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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Johann Miltons

Neunmahl das Zeitmaaß, mit welchem
die sterblichen Menschen Tag und Nacht zu mes-
sen pflegen, lag derselbe mit seinen greulichen
Haufen besieget, und welzete sich in dem feuri-
gen Meerbusem herum, sinnlos, obgleich un-
sterblich. Aber sein Gericht versparte ihn zu

mehr
Neunmahl das Zeitmaaß, mit welchem etc.) Der Poet
sagt nicht schlechtweg, neun Tage, weil er uns in den
Ort führen wollte, wo die Scena seiner Handlung lieget.
Jn der Hölle giebt es keine Tage, es ist daselbst lauter
Finsterniß, die nur durch die Flammen des feurigen Meer-
busems etwas erleuchtet wird, daß man dabey sehen kan;
daher sie Milton eine sichtbare Dunckelheit heißt; das ist,
eine Dunckelheit, dabey man, wie in einer starcken Däm-
merung, ein wenig Licht sieht. Hr. Voltaire hat wider die
Meinung des Poeten diese sichtbare Dunckelheit so verstan-
den, daß es eine Dunckelheit wäre, die man mit den
Augen sehen könnte. Uebrigens ist es nicht ohne Nutzen,
daß Milton die Zeit bestimmt, wie lange die Engel nach
ihrem Falle vom Himmel sinnlos und ohnmächtig gelegen
seyn. Diese Bestimmung bringt viel mehr Leben und Wahr-
scheinlichkeit in seine Erzehlung, als wenn er auf eine un-
bestimmte Weise gesagt hätte, sie wären eine lange Zeit
in der Ohnmacht gelegen. Eine Ohnmacht von neun Ta-
gen rührt uns mehr, als eine lange Ohnmacht; und zei-
get uns einen Geschichtschreiber, der von dem, was er
erzehlet, genauere Nachrichten hat.
Wältzete sich in dem feurigen Meerbusem sinnlos, ob-
gleich unsterblich) Magni beschuldiget den Poeten, daß
er hier die Beraubung der Sinne mit den feurigen Wellen
zusammengereimet habe. Allein das Herumwältzen Sa-
tans und seiner Gesellen war nicht eine Würckung einer in-
nerlichen Kraft derselben, sondern der Gewalt, womit
sie von diesem wütenden Sturmfeuer in dem Pful hin und
her
Johann Miltons

Neunmahl das Zeitmaaß, mit welchem
die ſterblichen Menſchen Tag und Nacht zu meſ-
ſen pflegen, lag derſelbe mit ſeinen greulichen
Haufen beſieget, und welzete ſich in dem feuri-
gen Meerbuſem herum, ſinnlos, obgleich un-
ſterblich. Aber ſein Gericht verſparte ihn zu

mehr
Neunmahl das Zeitmaaß, mit welchem ꝛc.) Der Poet
ſagt nicht ſchlechtweg, neun Tage, weil er uns in den
Ort fuͤhren wollte, wo die Scena ſeiner Handlung lieget.
Jn der Hoͤlle giebt es keine Tage, es iſt daſelbſt lauter
Finſterniß, die nur durch die Flammen des feurigen Meer-
buſems etwas erleuchtet wird, daß man dabey ſehen kan;
daher ſie Milton eine ſichtbare Dunckelheit heißt; das iſt,
eine Dunckelheit, dabey man, wie in einer ſtarcken Daͤm-
merung, ein wenig Licht ſieht. Hr. Voltaire hat wider die
Meinung des Poeten dieſe ſichtbare Dunckelheit ſo verſtan-
den, daß es eine Dunckelheit waͤre, die man mit den
Augen ſehen koͤnnte. Uebrigens iſt es nicht ohne Nutzen,
daß Milton die Zeit beſtimmt, wie lange die Engel nach
ihrem Falle vom Himmel ſinnlos und ohnmaͤchtig gelegen
ſeyn. Dieſe Beſtimmung bringt viel mehr Leben und Wahr-
ſcheinlichkeit in ſeine Erzehlung, als wenn er auf eine un-
beſtimmte Weiſe geſagt haͤtte, ſie waͤren eine lange Zeit
in der Ohnmacht gelegen. Eine Ohnmacht von neun Ta-
gen ruͤhrt uns mehr, als eine lange Ohnmacht; und zei-
get uns einen Geſchichtſchreiber, der von dem, was er
erzehlet, genauere Nachrichten hat.
Waͤltzete ſich in dem feurigen Meerbuſem ſinnlos, ob-
gleich unſterblich) Magni beſchuldiget den Poeten, daß
er hier die Beraubung der Sinne mit den feurigen Wellen
zuſammengereimet habe. Allein das Herumwaͤltzen Sa-
tans und ſeiner Geſellen war nicht eine Wuͤrckung einer in-
nerlichen Kraft derſelben, ſondern der Gewalt, womit
ſie von dieſem wuͤtenden Sturmfeuer in dem Pful hin und
her
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[4/0020] Johann Miltons Neunmahl das Zeitmaaß, mit welchem die ſterblichen Menſchen Tag und Nacht zu meſ- ſen pflegen, lag derſelbe mit ſeinen greulichen Haufen beſieget, und welzete ſich in dem feuri- gen Meerbuſem herum, ſinnlos, obgleich un- ſterblich. Aber ſein Gericht verſparte ihn zu mehr Neunmahl das Zeitmaaß, mit welchem ꝛc.) Der Poet ſagt nicht ſchlechtweg, neun Tage, weil er uns in den Ort fuͤhren wollte, wo die Scena ſeiner Handlung lieget. Jn der Hoͤlle giebt es keine Tage, es iſt daſelbſt lauter Finſterniß, die nur durch die Flammen des feurigen Meer- buſems etwas erleuchtet wird, daß man dabey ſehen kan; daher ſie Milton eine ſichtbare Dunckelheit heißt; das iſt, eine Dunckelheit, dabey man, wie in einer ſtarcken Daͤm- merung, ein wenig Licht ſieht. Hr. Voltaire hat wider die Meinung des Poeten dieſe ſichtbare Dunckelheit ſo verſtan- den, daß es eine Dunckelheit waͤre, die man mit den Augen ſehen koͤnnte. Uebrigens iſt es nicht ohne Nutzen, daß Milton die Zeit beſtimmt, wie lange die Engel nach ihrem Falle vom Himmel ſinnlos und ohnmaͤchtig gelegen ſeyn. Dieſe Beſtimmung bringt viel mehr Leben und Wahr- ſcheinlichkeit in ſeine Erzehlung, als wenn er auf eine un- beſtimmte Weiſe geſagt haͤtte, ſie waͤren eine lange Zeit in der Ohnmacht gelegen. Eine Ohnmacht von neun Ta- gen ruͤhrt uns mehr, als eine lange Ohnmacht; und zei- get uns einen Geſchichtſchreiber, der von dem, was er erzehlet, genauere Nachrichten hat. Waͤltzete ſich in dem feurigen Meerbuſem ſinnlos, ob- gleich unſterblich) Magni beſchuldiget den Poeten, daß er hier die Beraubung der Sinne mit den feurigen Wellen zuſammengereimet habe. Allein das Herumwaͤltzen Sa- tans und ſeiner Geſellen war nicht eine Wuͤrckung einer in- nerlichen Kraft derſelben, ſondern der Gewalt, womit ſie von dieſem wuͤtenden Sturmfeuer in dem Pful hin und her

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/20>, abgerufen am 24.04.2024.