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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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ein Heldengedichte.
die heutige Englische und Französische Poeten
einen grossen Vortheil vor uns haben. Sinte-
mahl die erste gantz England in Londen, wie die
andre gantz Frankreich in Paris vor sich finden.
Unterdessen so hat sich seit der Zeit ein andrer ge-

funden
allen denen Stellen dunkel werden, wo er sich zu absonder-
lichen historischen Begegnissen, sonderbaren Sitten und Ge-
wohnheiten, umständlichen Gemählden der Sitten, Allu-
sionen, persönlichen Schwachheiten, hinuntergelassen hat.
Denn wenn gleich zu der Zeit, da der Autor geschrie-
ben, und an dem Orte, wo er seine Schriften an das
Licht gestellet, jedermann von diesen Sachen Wissenschaft
gehabt hat, wenn die Personen, auf die er deutet, gleich
durchgehends bekannt gewesen sind, so gerathen solche doch
mit dem Laufe der Zeit, und öfters nach wenig Jahren
gäntzlich ins Vergessen. Wer Satyren an einem grossen
Königlichen Hofe schreibt, hat desfalls keinen Vortheil vor
einem andern, der in einer vornehmen Handelstadt eben
dasselbe thut. Leute, die ausser der allgemeinen grossen Haupt-
stadt leben, haben selbst bey Lebezeit des Verfassers so we-
nig Wissenschaft von solchen Kleinigkeiten, als diejenige,
welche ausser der Provinzialstadt wohnen, von eben derglei-
chen Sachen, die darinnen niemanden verborgen sind. Die
Umstände von dieser Art haben in der Hauptstadt sowohl
als in der Provinzialstadt nach einer kurtzen Zeit einen Ge-
schichtschreiber oder Ausleger vonnöthen. Also wären des
Boileau Satyren noch bey seinem Leben in vielen Stellen
unverständlich geworden, wenn sich nicht einer gefunden hät-
te, der sich eine Arbeit daraus gemachet hat, daß er alle
die Kleinigkeiten darinnen, derer Wissenschaft sich den Nach-
kommen entzogen hätte, sorgfältig erkläret hat. Und wie
viele Sachen sind in Horaz, Persius, und Juvenal, zu unsrer
Zeit dunkel, welche zu ihren Zeiten der ganzen Römischen Welt
bekannt waren. Dieses ist zwar sehr verdrießlich, weil solche
moralische und persönliche Umstände dienen, der Satyre Licht
und Leben in einem hohen Grade mitzutheilen, indem sie die
Sachen gantz nahe vor das Gesicht bringen. Dennoch lei-
det der moralische Unterricht von der Dunkelheit, in welche sie
mit der Zeit verfallen, keinen grossen Abbruch, weil sie nur
Nebenbegriffe geben, ohne welche die Hauptbegriffe nichtsde-
stoweniger wohl verstanden werden.
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ein Heldengedichte.
die heutige Engliſche und Franzoͤſiſche Poeten
einen groſſen Vortheil vor uns haben. Sinte-
mahl die erſte gantz England in Londen, wie die
andre gantz Frankreich in Paris vor ſich finden.
Unterdeſſen ſo hat ſich ſeit der Zeit ein andrer ge-

funden
allen denen Stellen dunkel werden, wo er ſich zu abſonder-
lichen hiſtoriſchen Begegniſſen, ſonderbaren Sitten und Ge-
wohnheiten, umſtaͤndlichen Gemaͤhlden der Sitten, Allu-
ſionen, perſoͤnlichen Schwachheiten, hinuntergelaſſen hat.
Denn wenn gleich zu der Zeit, da der Autor geſchrie-
ben, und an dem Orte, wo er ſeine Schriften an das
Licht geſtellet, jedermann von dieſen Sachen Wiſſenſchaft
gehabt hat, wenn die Perſonen, auf die er deutet, gleich
durchgehends bekannt geweſen ſind, ſo gerathen ſolche doch
mit dem Laufe der Zeit, und oͤfters nach wenig Jahren
gaͤntzlich ins Vergeſſen. Wer Satyren an einem groſſen
Koͤniglichen Hofe ſchreibt, hat desfalls keinen Vortheil vor
einem andern, der in einer vornehmen Handelſtadt eben
daſſelbe thut. Leute, die auſſer der allgemeinen groſſen Haupt-
ſtadt leben, haben ſelbſt bey Lebezeit des Verfaſſers ſo we-
nig Wiſſenſchaft von ſolchen Kleinigkeiten, als diejenige,
welche auſſer der Provinzialſtadt wohnen, von eben derglei-
chen Sachen, die darinnen niemanden verborgen ſind. Die
Umſtaͤnde von dieſer Art haben in der Hauptſtadt ſowohl
als in der Provinzialſtadt nach einer kurtzen Zeit einen Ge-
ſchichtſchreiber oder Ausleger vonnoͤthen. Alſo waͤren des
Boileau Satyren noch bey ſeinem Leben in vielen Stellen
unverſtaͤndlich geworden, wenn ſich nicht einer gefunden haͤt-
te, der ſich eine Arbeit daraus gemachet hat, daß er alle
die Kleinigkeiten darinnen, derer Wiſſenſchaft ſich den Nach-
kommen entzogen haͤtte, ſorgfaͤltig erklaͤret hat. Und wie
viele Sachen ſind in Horaz, Perſius, und Juvenal, zu unſrer
Zeit dunkel, welche zu ihren Zeiten der ganzen Roͤmiſchen Welt
bekannt waren. Dieſes iſt zwar ſehr verdrießlich, weil ſolche
moraliſche und perſoͤnliche Umſtaͤnde dienen, der Satyre Licht
und Leben in einem hohen Grade mitzutheilen, indem ſie die
Sachen gantz nahe vor das Geſicht bringen. Dennoch lei-
det der moraliſche Unterricht von der Dunkelheit, in welche ſie
mit der Zeit verfallen, keinen groſſen Abbruch, weil ſie nur
Nebenbegriffe geben, ohne welche die Hauptbegriffe nichtsde-
ſtoweniger wohl verſtanden werden.
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[119/0135] ein Heldengedichte. die heutige Engliſche und Franzoͤſiſche Poeten einen groſſen Vortheil vor uns haben. Sinte- mahl die erſte gantz England in Londen, wie die andre gantz Frankreich in Paris vor ſich finden. Unterdeſſen ſo hat ſich ſeit der Zeit ein andrer ge- funden allen denen Stellen dunkel werden, wo er ſich zu abſonder- lichen hiſtoriſchen Begegniſſen, ſonderbaren Sitten und Ge- wohnheiten, umſtaͤndlichen Gemaͤhlden der Sitten, Allu- ſionen, perſoͤnlichen Schwachheiten, hinuntergelaſſen hat. Denn wenn gleich zu der Zeit, da der Autor geſchrie- ben, und an dem Orte, wo er ſeine Schriften an das Licht geſtellet, jedermann von dieſen Sachen Wiſſenſchaft gehabt hat, wenn die Perſonen, auf die er deutet, gleich durchgehends bekannt geweſen ſind, ſo gerathen ſolche doch mit dem Laufe der Zeit, und oͤfters nach wenig Jahren gaͤntzlich ins Vergeſſen. Wer Satyren an einem groſſen Koͤniglichen Hofe ſchreibt, hat desfalls keinen Vortheil vor einem andern, der in einer vornehmen Handelſtadt eben daſſelbe thut. Leute, die auſſer der allgemeinen groſſen Haupt- ſtadt leben, haben ſelbſt bey Lebezeit des Verfaſſers ſo we- nig Wiſſenſchaft von ſolchen Kleinigkeiten, als diejenige, welche auſſer der Provinzialſtadt wohnen, von eben derglei- chen Sachen, die darinnen niemanden verborgen ſind. Die Umſtaͤnde von dieſer Art haben in der Hauptſtadt ſowohl als in der Provinzialſtadt nach einer kurtzen Zeit einen Ge- ſchichtſchreiber oder Ausleger vonnoͤthen. Alſo waͤren des Boileau Satyren noch bey ſeinem Leben in vielen Stellen unverſtaͤndlich geworden, wenn ſich nicht einer gefunden haͤt- te, der ſich eine Arbeit daraus gemachet hat, daß er alle die Kleinigkeiten darinnen, derer Wiſſenſchaft ſich den Nach- kommen entzogen haͤtte, ſorgfaͤltig erklaͤret hat. Und wie viele Sachen ſind in Horaz, Perſius, und Juvenal, zu unſrer Zeit dunkel, welche zu ihren Zeiten der ganzen Roͤmiſchen Welt bekannt waren. Dieſes iſt zwar ſehr verdrießlich, weil ſolche moraliſche und perſoͤnliche Umſtaͤnde dienen, der Satyre Licht und Leben in einem hohen Grade mitzutheilen, indem ſie die Sachen gantz nahe vor das Geſicht bringen. Dennoch lei- det der moraliſche Unterricht von der Dunkelheit, in welche ſie mit der Zeit verfallen, keinen groſſen Abbruch, weil ſie nur Nebenbegriffe geben, ohne welche die Hauptbegriffe nichtsde- ſtoweniger wohl verſtanden werden. H 4

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/135>, abgerufen am 22.11.2024.