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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Von dem Sinnreichen
nicht bloß in den Zufällen eines Dinges gesucht
werden, z. E. in dem blossen Thone der Worte,
wie in den Wortspielen, oder in der äusserlichen
Figur, wie in den Bilder-Reimen, oder in einer
blinden Versezung der Buchstaben und Sylben,
wie in dem Anagramma.

Drittens ist in einem hohen Grade scharfsinnig,
was uns mehrere verborgene Aehnlichkeiten verschie-
dener Dinge entdecket.

Folglich muß viertens das Scharfsinnige uns
grosse, deutliche, und ergetzende Begriffe erweken.

Aus diesen Grundregeln kan sich ein jeder leicht
einen Begriff von dem machen, was in den Schrif-
ten scharfsinnig heißt. Gegen dieselben will ich
nun die Entdeckungen der verkappten Phyllis un-
tersuchen. Denn wiewohl es das Ansehen hat,
als ob ihr Vorhaben nur auf das Sinnreiche gehe;
so ist doch die Wahrheit, daß sie diese Benennung
in der Bedeutung genommen hat, die an das Wort
Scharfsinnig gehänget ist: Woraus die Deut-
lichkeit ihrer Begriffe und ihre Kundschaft von der
deutschen Sprache, worauf sie sich doch am mei-
sten einbildet, abzunehmen ist.

Sie hat nachfolgende Stelle aus Canitzen Ge-
dichten vor das 37ste Stücke gesetzt.

Man redt u. schreibt nicht mehr, was sich zur Sache schiket,
Es wird nach der Vernunft kein Einfall ausgedrücket;
Der Bogen ist gefüllt,, eh' man an sie gedacht;
Was groß ist, das wird klein, was klein ist groß gemacht;
Da doch ein jeder weiß, daß in den Schildereyen
Allein die Aehnlichkeit das Auge kan erfreuen;
Weil eines Zwerges Bild die Artigkeit verliert,
Wenn man es in Gestalt der Riesen aufgeführt.
Jn

Von dem Sinnreichen
nicht bloß in den Zufaͤllen eines Dinges geſucht
werden, z. E. in dem bloſſen Thone der Worte,
wie in den Wortſpielen, oder in der aͤuſſerlichen
Figur, wie in den Bilder-Reimen, oder in einer
blinden Verſezung der Buchſtaben und Sylben,
wie in dem Anagramma.

Drittens iſt in einem hohen Grade ſcharfſinnig,
was uns mehrere verborgene Aehnlichkeiten verſchie-
dener Dinge entdecket.

Folglich muß viertens das Scharfſinnige uns
groſſe, deutliche, und ergetzende Begriffe erweken.

Aus dieſen Grundregeln kan ſich ein jeder leicht
einen Begriff von dem machen, was in den Schrif-
ten ſcharfſinnig heißt. Gegen dieſelben will ich
nun die Entdeckungen der verkappten Phyllis un-
terſuchen. Denn wiewohl es das Anſehen hat,
als ob ihr Vorhaben nur auf das Sinnreiche gehe;
ſo iſt doch die Wahrheit, daß ſie dieſe Benennung
in der Bedeutung genommen hat, die an das Wort
Scharfſinnig gehaͤnget iſt: Woraus die Deut-
lichkeit ihrer Begriffe und ihre Kundſchaft von der
deutſchen Sprache, worauf ſie ſich doch am mei-
ſten einbildet, abzunehmen iſt.

Sie hat nachfolgende Stelle aus Canitzen Ge-
dichten vor das 37ſte Stuͤcke geſetzt.

Man redt u. ſchreibt nicht mehr, was ſich zur Sache ſchiket,
Es wird nach der Vernunft kein Einfall ausgedruͤcket;
Der Bogen iſt gefuͤllt,, eh’ man an ſie gedacht;
Was groß iſt, das wird klein, was klein iſt groß gemacht;
Da doch ein jeder weiß, daß in den Schildereyen
Allein die Aehnlichkeit das Auge kan erfreuen;
Weil eines Zwerges Bild die Artigkeit verliert,
Wenn man es in Geſtalt der Rieſen aufgefuͤhrt.
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[94/0110] Von dem Sinnreichen nicht bloß in den Zufaͤllen eines Dinges geſucht werden, z. E. in dem bloſſen Thone der Worte, wie in den Wortſpielen, oder in der aͤuſſerlichen Figur, wie in den Bilder-Reimen, oder in einer blinden Verſezung der Buchſtaben und Sylben, wie in dem Anagramma. Drittens iſt in einem hohen Grade ſcharfſinnig, was uns mehrere verborgene Aehnlichkeiten verſchie- dener Dinge entdecket. Folglich muß viertens das Scharfſinnige uns groſſe, deutliche, und ergetzende Begriffe erweken. Aus dieſen Grundregeln kan ſich ein jeder leicht einen Begriff von dem machen, was in den Schrif- ten ſcharfſinnig heißt. Gegen dieſelben will ich nun die Entdeckungen der verkappten Phyllis un- terſuchen. Denn wiewohl es das Anſehen hat, als ob ihr Vorhaben nur auf das Sinnreiche gehe; ſo iſt doch die Wahrheit, daß ſie dieſe Benennung in der Bedeutung genommen hat, die an das Wort Scharfſinnig gehaͤnget iſt: Woraus die Deut- lichkeit ihrer Begriffe und ihre Kundſchaft von der deutſchen Sprache, worauf ſie ſich doch am mei- ſten einbildet, abzunehmen iſt. Sie hat nachfolgende Stelle aus Canitzen Ge- dichten vor das 37ſte Stuͤcke geſetzt. Man redt u. ſchreibt nicht mehr, was ſich zur Sache ſchiket, Es wird nach der Vernunft kein Einfall ausgedruͤcket; Der Bogen iſt gefuͤllt,, eh’ man an ſie gedacht; Was groß iſt, das wird klein, was klein iſt groß gemacht; Da doch ein jeder weiß, daß in den Schildereyen Allein die Aehnlichkeit das Auge kan erfreuen; Weil eines Zwerges Bild die Artigkeit verliert, Wenn man es in Geſtalt der Rieſen aufgefuͤhrt. Jn

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/110>, abgerufen am 06.05.2024.