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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.

Aber es fehlte den Germanen anfangs sowohl an der Einheit des
politischen Willens und der statlichen Macht als an der nöthigen Geistes-
bildung, um einem neuen Weltrecht Ausdruck zu geben und Geltung zu
verschaffen. Ihre Sitten waren zu roh, ihr Trotz zu ungefügig, ihre
Fäuste zu derb und ihre Rauflust zu unbändig. Als sie aber später von
Rom in die geistige und sittliche Schule und Zucht genommen wurden,
bekamen sie mit der Einheit des Papstthums und des Kaiserthums und
mit der religiösen Bildung auch die Mängel der mittelalterlich-römischen
Institutionen und Ideen, und jene Ansätze konnten nicht mehr zu gesundem
und fröhlichem Wachsthum gelangen.

Vergeblich wurde nun das römische Kaiserthum dem deutschen
Königthum aufgepfropft. Die Kaiser nannten sich wohl noch Herren der
Welt, Könige der Könige, Häupter der ewigen Stadt und Regenten des
Erdkreises. Auch sie behaupteten wohl, die obersten Richter zu sein über
die Fürsten und die Völker, und die Schirmer des Weltfriedens. Aber
die weltliche Oberherrlichkeit der Kaiser wurde in der abendländischen
Christenheit noch weniger allgemein anerkannt als die geistliche der Päpste.
Nicht einmal in Deutschland und in Italien vermochten die Kaiser den
Landfrieden vor der wilden Fehdelust der vielen großen und kleinen Herren
nachhaltig zu schützen. Um die Weltordnung zu handhaben, dazu reichten
ihre Kräfte noch weniger aus. In dem Ideale des Mittelalters herrschen
überall Recht und Gericht; aber in der Wirklichkeit regiert die rohe Ge-
walt. Es ist bezeichnend, daß die "Zeit des Faustrechts" von jedermann
auf die mittelalterlichen Zustände bezogen wird und daß das Wort auf
kein anderes Zeitalter besser paßt. Wo aber das Faustrecht in Uebung
ist, da hat das Völkerrecht keinen Raum.

Aufleben des modernen Völkerrechts.

Erst nachdem die kirchlich-päpstliche Einheit in dem abendländischen
Europa durch die Reformation des sechszehnten Jahrhunderts zerbrochen
war, wie lange vorher schon die weltlich-kaiserliche Einheit sich als unaus-
führbar erwiesen hatte, bekamen die lange zurück gehaltenen Rechtstriebe
Luft. Die Wissenschaft, welche sich endlich der Herrschaft des Glaubens
entwand, förderte nun zunächst mit ihrem Lichte ihre Entfaltung. In der
That, die Begründung des neueren Völkerrechts ist voraus ein Werk der
Wissenschaft
, welche das schlummernde Rechtsbewußtsein der civilisirten
Welt aufgeweckt hat. Dann folgte ihr die statsmännische Praxis und

Einleitung.

Aber es fehlte den Germanen anfangs ſowohl an der Einheit des
politiſchen Willens und der ſtatlichen Macht als an der nöthigen Geiſtes-
bildung, um einem neuen Weltrecht Ausdruck zu geben und Geltung zu
verſchaffen. Ihre Sitten waren zu roh, ihr Trotz zu ungefügig, ihre
Fäuſte zu derb und ihre Raufluſt zu unbändig. Als ſie aber ſpäter von
Rom in die geiſtige und ſittliche Schule und Zucht genommen wurden,
bekamen ſie mit der Einheit des Papſtthums und des Kaiſerthums und
mit der religiöſen Bildung auch die Mängel der mittelalterlich-römiſchen
Inſtitutionen und Ideen, und jene Anſätze konnten nicht mehr zu geſundem
und fröhlichem Wachsthum gelangen.

Vergeblich wurde nun das römiſche Kaiſerthum dem deutſchen
Königthum aufgepfropft. Die Kaiſer nannten ſich wohl noch Herren der
Welt, Könige der Könige, Häupter der ewigen Stadt und Regenten des
Erdkreiſes. Auch ſie behaupteten wohl, die oberſten Richter zu ſein über
die Fürſten und die Völker, und die Schirmer des Weltfriedens. Aber
die weltliche Oberherrlichkeit der Kaiſer wurde in der abendländiſchen
Chriſtenheit noch weniger allgemein anerkannt als die geiſtliche der Päpſte.
Nicht einmal in Deutſchland und in Italien vermochten die Kaiſer den
Landfrieden vor der wilden Fehdeluſt der vielen großen und kleinen Herren
nachhaltig zu ſchützen. Um die Weltordnung zu handhaben, dazu reichten
ihre Kräfte noch weniger aus. In dem Ideale des Mittelalters herrſchen
überall Recht und Gericht; aber in der Wirklichkeit regiert die rohe Ge-
walt. Es iſt bezeichnend, daß die „Zeit des Fauſtrechts“ von jedermann
auf die mittelalterlichen Zuſtände bezogen wird und daß das Wort auf
kein anderes Zeitalter beſſer paßt. Wo aber das Fauſtrecht in Uebung
iſt, da hat das Völkerrecht keinen Raum.

Aufleben des modernen Völkerrechts.

Erſt nachdem die kirchlich-päpſtliche Einheit in dem abendländiſchen
Europa durch die Reformation des ſechszehnten Jahrhunderts zerbrochen
war, wie lange vorher ſchon die weltlich-kaiſerliche Einheit ſich als unaus-
führbar erwieſen hatte, bekamen die lange zurück gehaltenen Rechtstriebe
Luft. Die Wiſſenſchaft, welche ſich endlich der Herrſchaft des Glaubens
entwand, förderte nun zunächſt mit ihrem Lichte ihre Entfaltung. In der
That, die Begründung des neueren Völkerrechts iſt voraus ein Werk der
Wiſſenſchaft
, welche das ſchlummernde Rechtsbewußtſein der civiliſirten
Welt aufgeweckt hat. Dann folgte ihr die ſtatsmänniſche Praxis und

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[15/0037] Einleitung. Aber es fehlte den Germanen anfangs ſowohl an der Einheit des politiſchen Willens und der ſtatlichen Macht als an der nöthigen Geiſtes- bildung, um einem neuen Weltrecht Ausdruck zu geben und Geltung zu verſchaffen. Ihre Sitten waren zu roh, ihr Trotz zu ungefügig, ihre Fäuſte zu derb und ihre Raufluſt zu unbändig. Als ſie aber ſpäter von Rom in die geiſtige und ſittliche Schule und Zucht genommen wurden, bekamen ſie mit der Einheit des Papſtthums und des Kaiſerthums und mit der religiöſen Bildung auch die Mängel der mittelalterlich-römiſchen Inſtitutionen und Ideen, und jene Anſätze konnten nicht mehr zu geſundem und fröhlichem Wachsthum gelangen. Vergeblich wurde nun das römiſche Kaiſerthum dem deutſchen Königthum aufgepfropft. Die Kaiſer nannten ſich wohl noch Herren der Welt, Könige der Könige, Häupter der ewigen Stadt und Regenten des Erdkreiſes. Auch ſie behaupteten wohl, die oberſten Richter zu ſein über die Fürſten und die Völker, und die Schirmer des Weltfriedens. Aber die weltliche Oberherrlichkeit der Kaiſer wurde in der abendländiſchen Chriſtenheit noch weniger allgemein anerkannt als die geiſtliche der Päpſte. Nicht einmal in Deutſchland und in Italien vermochten die Kaiſer den Landfrieden vor der wilden Fehdeluſt der vielen großen und kleinen Herren nachhaltig zu ſchützen. Um die Weltordnung zu handhaben, dazu reichten ihre Kräfte noch weniger aus. In dem Ideale des Mittelalters herrſchen überall Recht und Gericht; aber in der Wirklichkeit regiert die rohe Ge- walt. Es iſt bezeichnend, daß die „Zeit des Fauſtrechts“ von jedermann auf die mittelalterlichen Zuſtände bezogen wird und daß das Wort auf kein anderes Zeitalter beſſer paßt. Wo aber das Fauſtrecht in Uebung iſt, da hat das Völkerrecht keinen Raum. Aufleben des modernen Völkerrechts. Erſt nachdem die kirchlich-päpſtliche Einheit in dem abendländiſchen Europa durch die Reformation des ſechszehnten Jahrhunderts zerbrochen war, wie lange vorher ſchon die weltlich-kaiſerliche Einheit ſich als unaus- führbar erwieſen hatte, bekamen die lange zurück gehaltenen Rechtstriebe Luft. Die Wiſſenſchaft, welche ſich endlich der Herrſchaft des Glaubens entwand, förderte nun zunächſt mit ihrem Lichte ihre Entfaltung. In der That, die Begründung des neueren Völkerrechts iſt voraus ein Werk der Wiſſenſchaft, welche das ſchlummernde Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt aufgeweckt hat. Dann folgte ihr die ſtatsmänniſche Praxis und

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/37>, abgerufen am 27.11.2024.