Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.Völkerrechtliche Verträge. Bestimmung der ganzen öffentlichen Rechtsordnung widerspricht. So weit dürfen sichdie folgenden Geschlechter von den frühern nicht binden lassen, und so weit können diese auch nicht vernünftiger Weise jene binden wollen. Preußisches Manifest vom 9. October 1806: "Vor allen Tractaten haben die Nationen ihre Rechte". 459. Ist die Erfüllung einer Vertragsverbindlichkeit dauernd unmöglich Das "ultra posse nemo tenetur" kommt dem State hier zu Gute 460. Der verpflichtete Stat kann angehalten werden, auch eine ihm lästige Würde die bindende Kraft der Verträge nur für vortheilhafte, nicht auch für 461. Die Gültigkeit der Verträge ist nicht an die Fortdauer des Friedens- Bluntschli, Das Völkerrecht. 17
Völkerrechtliche Verträge. Beſtimmung der ganzen öffentlichen Rechtsordnung widerſpricht. So weit dürfen ſichdie folgenden Geſchlechter von den frühern nicht binden laſſen, und ſo weit können dieſe auch nicht vernünftiger Weiſe jene binden wollen. Preußiſches Manifeſt vom 9. October 1806: „Vor allen Tractaten haben die Nationen ihre Rechte“. 459. Iſt die Erfüllung einer Vertragsverbindlichkeit dauernd unmöglich Das „ultra posse nemo tenetur“ kommt dem State hier zu Gute 460. Der verpflichtete Stat kann angehalten werden, auch eine ihm läſtige Würde die bindende Kraft der Verträge nur für vortheilhafte, nicht auch für 461. Die Gültigkeit der Verträge iſt nicht an die Fortdauer des Friedens- Bluntſchli, Das Völkerrecht. 17
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Völkerrechtliche Verträge.
Beſtimmung der ganzen öffentlichen Rechtsordnung widerſpricht. So weit dürfen ſich
die folgenden Geſchlechter von den frühern nicht binden laſſen, und ſo weit können
dieſe auch nicht vernünftiger Weiſe jene binden wollen. Preußiſches Manifeſt
vom 9. October 1806: „Vor allen Tractaten haben die Nationen ihre
Rechte“.
459.
Iſt die Erfüllung einer Vertragsverbindlichkeit dauernd unmöglich
oder unausführbar geworden, ſo wird der Verpflichtete von derſelben frei.
Das „ultra posse nemo tenetur“ kommt dem State hier zu Gute
und zwar nicht bloß dann, wenn die Erfüllung abſolut unmöglich geworden iſt,
ſondern auch dann, wenn ihre Erfüllung einen unverhältnißmäßigen Kraft-
verbrauch erfordern ſollte, oder an rechtlichen Hinderniſſen ſcheitern müßte. Vgl.
oben § 411 f.
460.
Der verpflichtete Stat kann angehalten werden, auch eine ihm läſtige
und nachtheilige Verbindlichkeit zu erfüllen, aber niemals darf ihm zuge-
muthet werden, daß er ſeine Exiſtenz oder ſeine nothwendige Entwicklung
der Vertragstreue zum Opfer bringe.
Würde die bindende Kraft der Verträge nur für vortheilhafte, nicht auch für
läſtige und nachtheilige Beſtimmungen anerkannt, ſo würde alles Vertragsrecht über-
haupt ſchwankend und unſicher. Aber die Laſt muß erträglich ſein und die Nach-
theile dürfen nicht bis zum Verderben des States ſelber geſteigert werden. Die Ver-
bindlichkeit der Verträge hat ihre Grenzen. Das gewillkürte Recht iſt immer
nur ſecundär, es ſetzt das nothwendige und urſprüngliche Recht des
Lebens voraus und darf daher nicht das Leben des States ſelber zerſtören. Es kann
nur gelten, ſoweit es mit dem Leben ſich vereinbaren läßt. Da alles Recht nur als
Ordnung und Bedingung des Geſammtlebens Werth und Sinn hat,
ſo gibt es kein Recht, das Geſammtleben zu verderben. Deßhalb ſind ſtatsver-
derbliche Verträge nicht verbindlich und es hört ihre Wirkſamkeit in
dem Augenblick auf, in welchem dieſe Verderblichkeit offenbar geworden
iſt.
461.
Die Gültigkeit der Verträge iſt nicht an die Fortdauer des Friedens-
ſtandes gebunden und hört nicht von Rechts wegen auf, wenn es unter
den Vertragsparteien zum Kriege kommt.
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 17
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