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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Sechstes Buch.
steht keine Pflicht für den Alliirten in einem offenbar ungerechten Kriege
Hülfe zu leisten.

1. Die Defensivallianz wird abgeschlossen zur Vertheidigung entweder des
bestehenden Rechts oder doch des Besitzstandes wider feindliche Gewalt. Es ist nicht
erforderlich, daß dabei wenigstens einer der Alliirten als künftige Kriegspartei gedacht
wird. Es kann auch eine bewaffnete Allianz der neutralen Staten ver-
einbart werden, zur Behauptung der Neutralität während eines Krieges zwischen
dritten Mächten und zum Schutz der Rechte der Neutralen. Von der Art war die
bewaffnete Neutralität der nordischen Seemächte von 1780.

2. Aber auch die Offensivallianz darf wie der Krieg selbst nur völkerrecht-
lich erlaubte Ziele anstreben. Sie hat die Verfolgung gerechter Ansprüche entweder
im Sinne der bestehenden Rechtsordnung oder im Sinne der nothwen-
digen Entwicklung
zum Zweck. Würde sie abgeschlossen, lediglich um auf Er-
oberung auszugehen oder um mit vereinter Gewalt andere Staten zu unterdrücken,
so wäre sie völkerrechtswidrig. (Vgl. oben oben § 98, 412.)

3. Insofern ist die stillschweigende Voraussetzung (clause tacite) einer jeden
Allianz auf den Kriegsfall, daß die kriegerische Hülfe völkerrechtlich erlaubt
sei, d. h. daß die Partei, welche die Hülfe des Alliirten begehrt, berechtigt erscheine,
entweder sich zu vertheidigen oder anzugreifen. Niemals ist der Alliirte schuldig,
auch dann Hülfe zu leisten, wenn es ihm offenbar ist, daß der Hülfe fordernde Stat
Unrecht verübt, sei es indem dieser rechtmäßige Forderungen zu erfüllen ohne
Grund verweigert, sei es indem derselbe ohne Grund einen andern Stat mit Gewalt
mit Krieg überzieht. In einem offenbar ungerechten Kriege die Hülfe verweigern,
das heißt nicht die Allianz brechen, sondern die völkerrechtliche
Pflicht üben
.

448.

Die Pflicht der Alliirten, Hülfe zu gewähren, wird ermäßigt und
beschränkt durch die nähere Pflicht der nothwendigen Selbstvertheidigung.
Der Alliirte muß nur Hülfe leisten, soweit er im Stande ist, über Hülfs-
kräfte zu verfügen.

Es ist das eine stillschweigende Voraussetzung der Allianzen. Einem Stat,
welcher alle seine Kräfte zusammenhalten muß, um sein eigenes Gebiet gegen feind-
lichen Angriff zu vertheidigen, kann man nicht zumuthen, daß er sich selber Preis
gebe, um einem andern Stat Hülfe zu leisten. Die Existenz des eigenen
States zu bewahren
ist die erste und höchste Pflicht jeder Statsgewalt.
Nur wenn es damit verträglich ist, dürfen die Statskräfte für einen befreundeten
Stat eingesetzt werden. Wenn das eigene Haus brennt, so gebietet die Pflicht der
Selbsterhaltung vorerst da und nicht bei dem Nachbar zu löschen. Es kann freilich
dieser Satz mißbraucht und die Nothwendigkeit der Selbsthülfe als Vorwand benutzt

Sechstes Buch.
ſteht keine Pflicht für den Alliirten in einem offenbar ungerechten Kriege
Hülfe zu leiſten.

1. Die Defenſivallianz wird abgeſchloſſen zur Vertheidigung entweder des
beſtehenden Rechts oder doch des Beſitzſtandes wider feindliche Gewalt. Es iſt nicht
erforderlich, daß dabei wenigſtens einer der Alliirten als künftige Kriegspartei gedacht
wird. Es kann auch eine bewaffnete Allianz der neutralen Staten ver-
einbart werden, zur Behauptung der Neutralität während eines Krieges zwiſchen
dritten Mächten und zum Schutz der Rechte der Neutralen. Von der Art war die
bewaffnete Neutralität der nordiſchen Seemächte von 1780.

2. Aber auch die Offenſivallianz darf wie der Krieg ſelbſt nur völkerrecht-
lich erlaubte Ziele anſtreben. Sie hat die Verfolgung gerechter Anſprüche entweder
im Sinne der beſtehenden Rechtsordnung oder im Sinne der nothwen-
digen Entwicklung
zum Zweck. Würde ſie abgeſchloſſen, lediglich um auf Er-
oberung auszugehen oder um mit vereinter Gewalt andere Staten zu unterdrücken,
ſo wäre ſie völkerrechtswidrig. (Vgl. oben oben § 98, 412.)

3. Inſofern iſt die ſtillſchweigende Vorausſetzung (clause tacite) einer jeden
Allianz auf den Kriegsfall, daß die kriegeriſche Hülfe völkerrechtlich erlaubt
ſei, d. h. daß die Partei, welche die Hülfe des Alliirten begehrt, berechtigt erſcheine,
entweder ſich zu vertheidigen oder anzugreifen. Niemals iſt der Alliirte ſchuldig,
auch dann Hülfe zu leiſten, wenn es ihm offenbar iſt, daß der Hülfe fordernde Stat
Unrecht verübt, ſei es indem dieſer rechtmäßige Forderungen zu erfüllen ohne
Grund verweigert, ſei es indem derſelbe ohne Grund einen andern Stat mit Gewalt
mit Krieg überzieht. In einem offenbar ungerechten Kriege die Hülfe verweigern,
das heißt nicht die Allianz brechen, ſondern die völkerrechtliche
Pflicht üben
.

448.

Die Pflicht der Alliirten, Hülfe zu gewähren, wird ermäßigt und
beſchränkt durch die nähere Pflicht der nothwendigen Selbſtvertheidigung.
Der Alliirte muß nur Hülfe leiſten, ſoweit er im Stande iſt, über Hülfs-
kräfte zu verfügen.

Es iſt das eine ſtillſchweigende Vorausſetzung der Allianzen. Einem Stat,
welcher alle ſeine Kräfte zuſammenhalten muß, um ſein eigenes Gebiet gegen feind-
lichen Angriff zu vertheidigen, kann man nicht zumuthen, daß er ſich ſelber Preis
gebe, um einem andern Stat Hülfe zu leiſten. Die Exiſtenz des eigenen
States zu bewahren
iſt die erſte und höchſte Pflicht jeder Statsgewalt.
Nur wenn es damit verträglich iſt, dürfen die Statskräfte für einen befreundeten
Stat eingeſetzt werden. Wenn das eigene Haus brennt, ſo gebietet die Pflicht der
Selbſterhaltung vorerſt da und nicht bei dem Nachbar zu löſchen. Es kann freilich
dieſer Satz mißbraucht und die Nothwendigkeit der Selbſthülfe als Vorwand benutzt

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[252/0274] Sechstes Buch. ſteht keine Pflicht für den Alliirten in einem offenbar ungerechten Kriege Hülfe zu leiſten. 1. Die Defenſivallianz wird abgeſchloſſen zur Vertheidigung entweder des beſtehenden Rechts oder doch des Beſitzſtandes wider feindliche Gewalt. Es iſt nicht erforderlich, daß dabei wenigſtens einer der Alliirten als künftige Kriegspartei gedacht wird. Es kann auch eine bewaffnete Allianz der neutralen Staten ver- einbart werden, zur Behauptung der Neutralität während eines Krieges zwiſchen dritten Mächten und zum Schutz der Rechte der Neutralen. Von der Art war die bewaffnete Neutralität der nordiſchen Seemächte von 1780. 2. Aber auch die Offenſivallianz darf wie der Krieg ſelbſt nur völkerrecht- lich erlaubte Ziele anſtreben. Sie hat die Verfolgung gerechter Anſprüche entweder im Sinne der beſtehenden Rechtsordnung oder im Sinne der nothwen- digen Entwicklung zum Zweck. Würde ſie abgeſchloſſen, lediglich um auf Er- oberung auszugehen oder um mit vereinter Gewalt andere Staten zu unterdrücken, ſo wäre ſie völkerrechtswidrig. (Vgl. oben oben § 98, 412.) 3. Inſofern iſt die ſtillſchweigende Vorausſetzung (clause tacite) einer jeden Allianz auf den Kriegsfall, daß die kriegeriſche Hülfe völkerrechtlich erlaubt ſei, d. h. daß die Partei, welche die Hülfe des Alliirten begehrt, berechtigt erſcheine, entweder ſich zu vertheidigen oder anzugreifen. Niemals iſt der Alliirte ſchuldig, auch dann Hülfe zu leiſten, wenn es ihm offenbar iſt, daß der Hülfe fordernde Stat Unrecht verübt, ſei es indem dieſer rechtmäßige Forderungen zu erfüllen ohne Grund verweigert, ſei es indem derſelbe ohne Grund einen andern Stat mit Gewalt mit Krieg überzieht. In einem offenbar ungerechten Kriege die Hülfe verweigern, das heißt nicht die Allianz brechen, ſondern die völkerrechtliche Pflicht üben. 448. Die Pflicht der Alliirten, Hülfe zu gewähren, wird ermäßigt und beſchränkt durch die nähere Pflicht der nothwendigen Selbſtvertheidigung. Der Alliirte muß nur Hülfe leiſten, ſoweit er im Stande iſt, über Hülfs- kräfte zu verfügen. Es iſt das eine ſtillſchweigende Vorausſetzung der Allianzen. Einem Stat, welcher alle ſeine Kräfte zuſammenhalten muß, um ſein eigenes Gebiet gegen feind- lichen Angriff zu vertheidigen, kann man nicht zumuthen, daß er ſich ſelber Preis gebe, um einem andern Stat Hülfe zu leiſten. Die Exiſtenz des eigenen States zu bewahren iſt die erſte und höchſte Pflicht jeder Statsgewalt. Nur wenn es damit verträglich iſt, dürfen die Statskräfte für einen befreundeten Stat eingeſetzt werden. Wenn das eigene Haus brennt, ſo gebietet die Pflicht der Selbſterhaltung vorerſt da und nicht bei dem Nachbar zu löſchen. Es kann freilich dieſer Satz mißbraucht und die Nothwendigkeit der Selbſthülfe als Vorwand benutzt

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/274>, abgerufen am 23.11.2024.