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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Einleitung.
sondern ein nothwendiges Recht anerkennen, welches in der Natur der
Verhältnisse und in den Pflichten der civilisirten Völker gegen die Mensch-
heit seine eigentliche Begründung hat.

Die mittelalterliche Rechtsbildung war oft auch in den einzelnen
Ländern nicht anders. Man wählte nicht selten die Form des Ver-
trags
und schuf den Inhalt des Gesetzes. Die heutigen Staten haben
nicht einmal die Wahl zwischen zweierlei Formen. Sie können ihre ge-
meinsame Rechtsüberzeugung nur in der bedenklichen Form einer viel-
stimmigen Erklärung
aussprechen; die einheitliche Form der Aus-
sprache ist für ihre Gesammtheit unmöglich, so lange diese nicht zu Einer
Rechtsperson organisirt ist. Auch in den Verträgen, welche zunächst nur
unter einzelnen Staten abgeschlossen worden sind, sind daher manche
Bestimmungen zu finden, welche ihrem Wesen nach Rechtsgesetze und
keineswegs bloße Vertragsartikel sind, welche die nothwendige Rechtsordnung,
nicht die Convenienz der contrahirenden Staten darstellen.

Sogar die Gesetzgebung eines Einzelstates kann so völkerrecht-
liche Grundsätze mit öffentlicher Autorität aussprechen und dadurch an der
Klärung und Fortbildung des Völkerrechts überhaupt einen bedeutenden
Antheil nehmen. Die formelle und zwingende Autorität eines States reicht
freilich nicht über die Gränzen seines Gebietes hinaus. Aber die geistige
und freie Autorität desselben kann sich sehr viel weiter erstrecken, wenn ihr
die öffentliche Meinung ihren Beifall zuwendet, wenn die Ueberzeugung sich
verbreitet, daß jene Aussprache dem Rechtsbewußtsein der civilisirten Welt
entspreche.

Wir haben in neuester Zeit einen merkwürdigen Act dieser Art er-
lebt, welcher zugleich einen bedeutenden Fortschritt des modernen Völker-
rechts bezeichnet. Während des nordamerikanischen Bürgerkriegs nämlich
ist im April 1863 eine "Instruction für die Armeen der Vereinigten
Staten im Feld" erschienen, welche geradezu als eine erste Codification
des Kriegsrechts im Landkrieg
zu betrachten ist. Dieselbe wurde von
einem der angesehensten Rechtsgelehrten und Statsphilosophen Amerikas,
von Professor Lieber, entworfen, von einer Commission von Officieren
geprüft und von dem Präsidenten der Vereinigten Staten, Lincoln, ge-
nehmigt. Sie enthält in 157 Paragraphen genaue Vorschriften über die
Kriegsgewalt in Feindesland, ihre Macht und ihre Gränzen, über das
öffentliche und das Privateigenthum des Feindes, über den Schutz der
Privatpersonen und die Interessen der Religion, Kunst und Wissenschaft,

Einleitung.
ſondern ein nothwendiges Recht anerkennen, welches in der Natur der
Verhältniſſe und in den Pflichten der civiliſirten Völker gegen die Menſch-
heit ſeine eigentliche Begründung hat.

Die mittelalterliche Rechtsbildung war oft auch in den einzelnen
Ländern nicht anders. Man wählte nicht ſelten die Form des Ver-
trags
und ſchuf den Inhalt des Geſetzes. Die heutigen Staten haben
nicht einmal die Wahl zwiſchen zweierlei Formen. Sie können ihre ge-
meinſame Rechtsüberzeugung nur in der bedenklichen Form einer viel-
ſtimmigen Erklärung
ausſprechen; die einheitliche Form der Aus-
ſprache iſt für ihre Geſammtheit unmöglich, ſo lange dieſe nicht zu Einer
Rechtsperſon organiſirt iſt. Auch in den Verträgen, welche zunächſt nur
unter einzelnen Staten abgeſchloſſen worden ſind, ſind daher manche
Beſtimmungen zu finden, welche ihrem Weſen nach Rechtsgeſetze und
keineswegs bloße Vertragsartikel ſind, welche die nothwendige Rechtsordnung,
nicht die Convenienz der contrahirenden Staten darſtellen.

Sogar die Geſetzgebung eines Einzelſtates kann ſo völkerrecht-
liche Grundſätze mit öffentlicher Autorität ausſprechen und dadurch an der
Klärung und Fortbildung des Völkerrechts überhaupt einen bedeutenden
Antheil nehmen. Die formelle und zwingende Autorität eines States reicht
freilich nicht über die Gränzen ſeines Gebietes hinaus. Aber die geiſtige
und freie Autorität deſſelben kann ſich ſehr viel weiter erſtrecken, wenn ihr
die öffentliche Meinung ihren Beifall zuwendet, wenn die Ueberzeugung ſich
verbreitet, daß jene Ausſprache dem Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt
entſpreche.

Wir haben in neueſter Zeit einen merkwürdigen Act dieſer Art er-
lebt, welcher zugleich einen bedeutenden Fortſchritt des modernen Völker-
rechts bezeichnet. Während des nordamerikaniſchen Bürgerkriegs nämlich
iſt im April 1863 eine „Inſtruction für die Armeen der Vereinigten
Staten im Feld“ erſchienen, welche geradezu als eine erſte Codification
des Kriegsrechts im Landkrieg
zu betrachten iſt. Dieſelbe wurde von
einem der angeſehenſten Rechtsgelehrten und Statsphiloſophen Amerikas,
von Profeſſor Lieber, entworfen, von einer Commiſſion von Officieren
geprüft und von dem Präſidenten der Vereinigten Staten, Lincoln, ge-
nehmigt. Sie enthält in 157 Paragraphen genaue Vorſchriften über die
Kriegsgewalt in Feindesland, ihre Macht und ihre Gränzen, über das
öffentliche und das Privateigenthum des Feindes, über den Schutz der
Privatperſonen und die Intereſſen der Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft,

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[5/0027] Einleitung. ſondern ein nothwendiges Recht anerkennen, welches in der Natur der Verhältniſſe und in den Pflichten der civiliſirten Völker gegen die Menſch- heit ſeine eigentliche Begründung hat. Die mittelalterliche Rechtsbildung war oft auch in den einzelnen Ländern nicht anders. Man wählte nicht ſelten die Form des Ver- trags und ſchuf den Inhalt des Geſetzes. Die heutigen Staten haben nicht einmal die Wahl zwiſchen zweierlei Formen. Sie können ihre ge- meinſame Rechtsüberzeugung nur in der bedenklichen Form einer viel- ſtimmigen Erklärung ausſprechen; die einheitliche Form der Aus- ſprache iſt für ihre Geſammtheit unmöglich, ſo lange dieſe nicht zu Einer Rechtsperſon organiſirt iſt. Auch in den Verträgen, welche zunächſt nur unter einzelnen Staten abgeſchloſſen worden ſind, ſind daher manche Beſtimmungen zu finden, welche ihrem Weſen nach Rechtsgeſetze und keineswegs bloße Vertragsartikel ſind, welche die nothwendige Rechtsordnung, nicht die Convenienz der contrahirenden Staten darſtellen. Sogar die Geſetzgebung eines Einzelſtates kann ſo völkerrecht- liche Grundſätze mit öffentlicher Autorität ausſprechen und dadurch an der Klärung und Fortbildung des Völkerrechts überhaupt einen bedeutenden Antheil nehmen. Die formelle und zwingende Autorität eines States reicht freilich nicht über die Gränzen ſeines Gebietes hinaus. Aber die geiſtige und freie Autorität deſſelben kann ſich ſehr viel weiter erſtrecken, wenn ihr die öffentliche Meinung ihren Beifall zuwendet, wenn die Ueberzeugung ſich verbreitet, daß jene Ausſprache dem Rechtsbewußtſein der civiliſirten Welt entſpreche. Wir haben in neueſter Zeit einen merkwürdigen Act dieſer Art er- lebt, welcher zugleich einen bedeutenden Fortſchritt des modernen Völker- rechts bezeichnet. Während des nordamerikaniſchen Bürgerkriegs nämlich iſt im April 1863 eine „Inſtruction für die Armeen der Vereinigten Staten im Feld“ erſchienen, welche geradezu als eine erſte Codification des Kriegsrechts im Landkrieg zu betrachten iſt. Dieſelbe wurde von einem der angeſehenſten Rechtsgelehrten und Statsphiloſophen Amerikas, von Profeſſor Lieber, entworfen, von einer Commiſſion von Officieren geprüft und von dem Präſidenten der Vereinigten Staten, Lincoln, ge- nehmigt. Sie enthält in 157 Paragraphen genaue Vorſchriften über die Kriegsgewalt in Feindesland, ihre Macht und ihre Gränzen, über das öffentliche und das Privateigenthum des Feindes, über den Schutz der Privatperſonen und die Intereſſen der Religion, Kunſt und Wiſſenſchaft,

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/27>, abgerufen am 27.04.2024.