Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Viertes Buch.
4. Von den Statsdienstbarkeiten.
353.

Wenn die Gebietshoheit eines States zu Gunsten eines andern
States -- oder ausnahmsweise auch zu Gunsten einer unter völkerrecht-
lichem Schutze stehenden Körperschaft oder Familie -- vertragsmäßig und
dauernd beschränkt wird, so wird diese Beschränkung Statsdienstbarkeit
genannt.

Wir nennen diejenigen Beschränkungen der Gebietshoheit, welche aus dem
völkerrechtlichen Zusammenhang der Staten und aus der allgemeinen Natur der
Verhältnisse mit Rechtsnothwendigkeit sich ergeben, wie die Pflicht zum Gesanten-
verkehr und Fremdenschutz, die Gewährung der freien Schiffahrt auf den großen
Strömen und am Küstensaum u. dgl. nicht Dienstbarkeiten, weil sie zu der regel-
mäßigen Rechtsordnung
gehören, weil hier die Statshoheit selbst als ein da-
durch nothwendig beschränktes Recht erscheint. Die eigentlichen Statsdienst-
barkeiten verstehn sich nicht von selber, sondern bedürfen einer besondern Begründung
im einzelnen Fall. Sie sind ein jus singulare, für welches keine Vermuthung
spricht.

Die Analogie der privatrechtlichen Grundsätze über die sogenannten Prädial-
servituten
darf nur mit Vorsicht angewendet werden, weil es sich hier nicht um
Verhältnisse handelt, welche der Wilkür von Privatpersonen anheimfallen,
sondern um Zustände, bei welchen das Wohl der Völker betheiligt ist. Die
Sicherheit und Unabhängigkeit der Staten ist doch ein ganz anderes Ding als das
Grundeigenthum und daher eine Beschränkung derselben von ganz anderer Wirkung
als eine Privatservitut.

354.

Der Begründung einer Statsdienstbarkeit durch Vertrag steht die
Berufung auf unvordenklichen Besitz gleich, insofern aus der fortdauernden
Ausübung solcher Beschränkung ohne Widerspruch des beschränkten States
auf die Anerkennung der Dienstbarkeit durch diesen geschlossen werden kann.

Es ist unmöglich, die herkömmlichen Statsdienstbarkeiten zu ignoriren,
aber man darf doch nicht leichthin derartige Beschränkungen als ursprünglich
gewillkürte
annehmen. Vielmehr bedarf es eines strengen Beweises dafür, daß
nicht etwa der beschränkte Stat bloß gutwillig und aus Freundlichkeit für den Nach-
barn, aber ohne Rechtsverbindlichkeit sich die thatsächliche Beschränkung habe gefallen
lassen, sondern dieselbe als nothwendig und bindend anerkannt habe.

Viertes Buch.
4. Von den Statsdienſtbarkeiten.
353.

Wenn die Gebietshoheit eines States zu Gunſten eines andern
States — oder ausnahmsweiſe auch zu Gunſten einer unter völkerrecht-
lichem Schutze ſtehenden Körperſchaft oder Familie — vertragsmäßig und
dauernd beſchränkt wird, ſo wird dieſe Beſchränkung Statsdienſtbarkeit
genannt.

Wir nennen diejenigen Beſchränkungen der Gebietshoheit, welche aus dem
völkerrechtlichen Zuſammenhang der Staten und aus der allgemeinen Natur der
Verhältniſſe mit Rechtsnothwendigkeit ſich ergeben, wie die Pflicht zum Geſanten-
verkehr und Fremdenſchutz, die Gewährung der freien Schiffahrt auf den großen
Strömen und am Küſtenſaum u. dgl. nicht Dienſtbarkeiten, weil ſie zu der regel-
mäßigen Rechtsordnung
gehören, weil hier die Statshoheit ſelbſt als ein da-
durch nothwendig beſchränktes Recht erſcheint. Die eigentlichen Statsdienſt-
barkeiten verſtehn ſich nicht von ſelber, ſondern bedürfen einer beſondern Begründung
im einzelnen Fall. Sie ſind ein jus singulare, für welches keine Vermuthung
ſpricht.

Die Analogie der privatrechtlichen Grundſätze über die ſogenannten Prädial-
ſervituten
darf nur mit Vorſicht angewendet werden, weil es ſich hier nicht um
Verhältniſſe handelt, welche der Wilkür von Privatperſonen anheimfallen,
ſondern um Zuſtände, bei welchen das Wohl der Völker betheiligt iſt. Die
Sicherheit und Unabhängigkeit der Staten iſt doch ein ganz anderes Ding als das
Grundeigenthum und daher eine Beſchränkung derſelben von ganz anderer Wirkung
als eine Privatſervitut.

354.

Der Begründung einer Statsdienſtbarkeit durch Vertrag ſteht die
Berufung auf unvordenklichen Beſitz gleich, inſofern aus der fortdauernden
Ausübung ſolcher Beſchränkung ohne Widerſpruch des beſchränkten States
auf die Anerkennung der Dienſtbarkeit durch dieſen geſchloſſen werden kann.

Es iſt unmöglich, die herkömmlichen Statsdienſtbarkeiten zu ignoriren,
aber man darf doch nicht leichthin derartige Beſchränkungen als urſprünglich
gewillkürte
annehmen. Vielmehr bedarf es eines ſtrengen Beweiſes dafür, daß
nicht etwa der beſchränkte Stat bloß gutwillig und aus Freundlichkeit für den Nach-
barn, aber ohne Rechtsverbindlichkeit ſich die thatſächliche Beſchränkung habe gefallen
laſſen, ſondern dieſelbe als nothwendig und bindend anerkannt habe.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0226" n="204"/>
          <fw place="top" type="header">Viertes Buch.</fw><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">4. Von den Statsdien&#x017F;tbarkeiten.</hi> </head><lb/>
            <div n="4">
              <head>353.</head><lb/>
              <p>Wenn die Gebietshoheit eines States zu Gun&#x017F;ten eines andern<lb/>
States &#x2014; oder ausnahmswei&#x017F;e auch zu Gun&#x017F;ten einer unter völkerrecht-<lb/>
lichem Schutze &#x017F;tehenden Körper&#x017F;chaft oder Familie &#x2014; vertragsmäßig und<lb/>
dauernd be&#x017F;chränkt wird, &#x017F;o wird die&#x017F;e Be&#x017F;chränkung Statsdien&#x017F;tbarkeit<lb/>
genannt.</p><lb/>
              <p>Wir nennen diejenigen Be&#x017F;chränkungen der Gebietshoheit, welche aus dem<lb/>
völkerrechtlichen Zu&#x017F;ammenhang der Staten und aus der allgemeinen Natur der<lb/>
Verhältni&#x017F;&#x017F;e mit Rechtsnothwendigkeit &#x017F;ich ergeben, wie die Pflicht zum Ge&#x017F;anten-<lb/>
verkehr und Fremden&#x017F;chutz, die Gewährung der freien Schiffahrt auf den großen<lb/>
Strömen und am Kü&#x017F;ten&#x017F;aum u. dgl. nicht Dien&#x017F;tbarkeiten, weil &#x017F;ie zu der <hi rendition="#g">regel-<lb/>
mäßigen Rechtsordnung</hi> gehören, weil hier die Statshoheit &#x017F;elb&#x017F;t als ein da-<lb/>
durch <hi rendition="#g">nothwendig be&#x017F;chränktes Recht</hi> er&#x017F;cheint. Die eigentlichen Statsdien&#x017F;t-<lb/>
barkeiten ver&#x017F;tehn &#x017F;ich nicht von &#x017F;elber, &#x017F;ondern bedürfen einer be&#x017F;ondern Begründung<lb/>
im einzelnen Fall. Sie &#x017F;ind ein <hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">jus singulare</hi></hi>, für welches keine Vermuthung<lb/>
&#x017F;pricht.</p><lb/>
              <p>Die Analogie der privatrechtlichen Grund&#x017F;ätze über die &#x017F;ogenannten <hi rendition="#g">Prädial-<lb/>
&#x017F;ervituten</hi> darf nur mit Vor&#x017F;icht angewendet werden, weil es &#x017F;ich hier nicht um<lb/>
Verhältni&#x017F;&#x017F;e handelt, welche der <hi rendition="#g">Wilkür</hi> von <hi rendition="#g">Privatper&#x017F;onen</hi> anheimfallen,<lb/>
&#x017F;ondern um Zu&#x017F;tände, bei welchen <hi rendition="#g">das Wohl der Völker</hi> betheiligt i&#x017F;t. Die<lb/>
Sicherheit und Unabhängigkeit der Staten i&#x017F;t doch ein ganz anderes Ding als das<lb/>
Grundeigenthum und daher eine Be&#x017F;chränkung der&#x017F;elben von ganz anderer Wirkung<lb/>
als eine Privat&#x017F;ervitut.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>354.</head><lb/>
              <p>Der Begründung einer Statsdien&#x017F;tbarkeit durch Vertrag &#x017F;teht die<lb/>
Berufung auf unvordenklichen Be&#x017F;itz gleich, in&#x017F;ofern aus der fortdauernden<lb/>
Ausübung &#x017F;olcher Be&#x017F;chränkung ohne Wider&#x017F;pruch des be&#x017F;chränkten States<lb/>
auf die Anerkennung der Dien&#x017F;tbarkeit durch die&#x017F;en ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en werden kann.</p><lb/>
              <p>Es i&#x017F;t unmöglich, die <hi rendition="#g">herkömmlichen</hi> Statsdien&#x017F;tbarkeiten zu ignoriren,<lb/>
aber man darf doch nicht leichthin derartige Be&#x017F;chränkungen als <hi rendition="#g">ur&#x017F;prünglich<lb/>
gewillkürte</hi> annehmen. Vielmehr bedarf es eines &#x017F;trengen Bewei&#x017F;es dafür, daß<lb/>
nicht etwa der be&#x017F;chränkte Stat bloß gutwillig und aus Freundlichkeit für den Nach-<lb/>
barn, aber ohne Rechtsverbindlichkeit &#x017F;ich die that&#x017F;ächliche Be&#x017F;chränkung habe gefallen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern die&#x017F;elbe als nothwendig und bindend anerkannt habe.</p>
            </div><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[204/0226] Viertes Buch. 4. Von den Statsdienſtbarkeiten. 353. Wenn die Gebietshoheit eines States zu Gunſten eines andern States — oder ausnahmsweiſe auch zu Gunſten einer unter völkerrecht- lichem Schutze ſtehenden Körperſchaft oder Familie — vertragsmäßig und dauernd beſchränkt wird, ſo wird dieſe Beſchränkung Statsdienſtbarkeit genannt. Wir nennen diejenigen Beſchränkungen der Gebietshoheit, welche aus dem völkerrechtlichen Zuſammenhang der Staten und aus der allgemeinen Natur der Verhältniſſe mit Rechtsnothwendigkeit ſich ergeben, wie die Pflicht zum Geſanten- verkehr und Fremdenſchutz, die Gewährung der freien Schiffahrt auf den großen Strömen und am Küſtenſaum u. dgl. nicht Dienſtbarkeiten, weil ſie zu der regel- mäßigen Rechtsordnung gehören, weil hier die Statshoheit ſelbſt als ein da- durch nothwendig beſchränktes Recht erſcheint. Die eigentlichen Statsdienſt- barkeiten verſtehn ſich nicht von ſelber, ſondern bedürfen einer beſondern Begründung im einzelnen Fall. Sie ſind ein jus singulare, für welches keine Vermuthung ſpricht. Die Analogie der privatrechtlichen Grundſätze über die ſogenannten Prädial- ſervituten darf nur mit Vorſicht angewendet werden, weil es ſich hier nicht um Verhältniſſe handelt, welche der Wilkür von Privatperſonen anheimfallen, ſondern um Zuſtände, bei welchen das Wohl der Völker betheiligt iſt. Die Sicherheit und Unabhängigkeit der Staten iſt doch ein ganz anderes Ding als das Grundeigenthum und daher eine Beſchränkung derſelben von ganz anderer Wirkung als eine Privatſervitut. 354. Der Begründung einer Statsdienſtbarkeit durch Vertrag ſteht die Berufung auf unvordenklichen Beſitz gleich, inſofern aus der fortdauernden Ausübung ſolcher Beſchränkung ohne Widerſpruch des beſchränkten States auf die Anerkennung der Dienſtbarkeit durch dieſen geſchloſſen werden kann. Es iſt unmöglich, die herkömmlichen Statsdienſtbarkeiten zu ignoriren, aber man darf doch nicht leichthin derartige Beſchränkungen als urſprünglich gewillkürte annehmen. Vielmehr bedarf es eines ſtrengen Beweiſes dafür, daß nicht etwa der beſchränkte Stat bloß gutwillig und aus Freundlichkeit für den Nach- barn, aber ohne Rechtsverbindlichkeit ſich die thatſächliche Beſchränkung habe gefallen laſſen, ſondern dieſelbe als nothwendig und bindend anerkannt habe.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/226
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/226>, abgerufen am 23.11.2024.