5. Recht und Pflicht des völkerrechtlichen Verkehrs.
159.
Jeder Stat ist als souveräne Person berechtigt, Gesante und andere Agenten mit dem Auftrag zu ernennen, seinen Verkehr mit andern Staten zu vermitteln.
Dieses sogenannte "active Gesantschaftsrecht" ist eine Anwendung der Souveränetätsrechte auf die völkerrechtlichen Beziehungen der Staten zu einander.
160.
In zusammengesetzten Staten (Statenbünden, Bundesstaten, Staten- reichen) wird dieses Recht je nach der Verfassung derselben entweder von den Einzelstaten und dem Gesammtstate, oder nur von diesem, oder vor- herrschend von jenen oder von diesem geübt.
In der alten Deutschen Reichsverfassung hatten die Landesherrn das Gesantenrecht erworben, neben dem Kaiser und Reich insgesammt. Der deutsche Bund von 1815 erkannte das vorzugsweise Gesantenrecht der Einzelstaten an, schloß aber eine Gesammtvertretung nicht aus. Die Verfassung der Vereinigten Staten von Nordamerika von 1787 concentrirt das Gesantenrecht fast ausschließlich in der Hand des Präsidenten, ebenso die schweizerische Bundesverfassung von 1848 in der des Bundesraths; beide Verfassungen schließen aber eine besondere außerordentliche Vertretung der Einzelstaten nicht völlig aus, aber ordnen dieselbe der Aufsicht der Bundesgewalt unter. Auch einzelnen Türkischen Vasallenstaten ist ein beschränktes Gesantenrecht zugestanden worden. Die Verfassung des norddeut- schen Bundes weist die völkerrechtliche Vertretung desselben ausschließlich der Krone Preußen zu, hebt aber das Gesantenrecht der Einzelstaten in ihren besondern Interessen nicht auf. (Art. 11).
161.
Ausnahmsweise wird das Recht, einen Gesanten zu senden, auch auf die Vicekönige und die Statthalter entlegener Provinzen oder abhängiger Länder übertragen.
Da diese Provinzen oder Länder eine besondere relative Sonderexistenz haben, so bedürfen sie unter Umständen auch eine besondere Vertretung. Da der
Drittes Buch.
II. Andere Organe des völkerrechtlichen Verkehrs.
5. Recht und Pflicht des völkerrechtlichen Verkehrs.
159.
Jeder Stat iſt als ſouveräne Perſon berechtigt, Geſante und andere Agenten mit dem Auftrag zu ernennen, ſeinen Verkehr mit andern Staten zu vermitteln.
Dieſes ſogenannte „active Geſantſchaftsrecht“ iſt eine Anwendung der Souveränetätsrechte auf die völkerrechtlichen Beziehungen der Staten zu einander.
160.
In zuſammengeſetzten Staten (Statenbünden, Bundesſtaten, Staten- reichen) wird dieſes Recht je nach der Verfaſſung derſelben entweder von den Einzelſtaten und dem Geſammtſtate, oder nur von dieſem, oder vor- herrſchend von jenen oder von dieſem geübt.
In der alten Deutſchen Reichsverfaſſung hatten die Landesherrn das Geſantenrecht erworben, neben dem Kaiſer und Reich insgeſammt. Der deutſche Bund von 1815 erkannte das vorzugsweiſe Geſantenrecht der Einzelſtaten an, ſchloß aber eine Geſammtvertretung nicht aus. Die Verfaſſung der Vereinigten Staten von Nordamerika von 1787 concentrirt das Geſantenrecht faſt ausſchließlich in der Hand des Präſidenten, ebenſo die ſchweizeriſche Bundesverfaſſung von 1848 in der des Bundesraths; beide Verfaſſungen ſchließen aber eine beſondere außerordentliche Vertretung der Einzelſtaten nicht völlig aus, aber ordnen dieſelbe der Aufſicht der Bundesgewalt unter. Auch einzelnen Türkiſchen Vaſallenſtaten iſt ein beſchränktes Geſantenrecht zugeſtanden worden. Die Verfaſſung des norddeut- ſchen Bundes weiſt die völkerrechtliche Vertretung desſelben ausſchließlich der Krone Preußen zu, hebt aber das Geſantenrecht der Einzelſtaten in ihren beſondern Intereſſen nicht auf. (Art. 11).
161.
Ausnahmsweiſe wird das Recht, einen Geſanten zu ſenden, auch auf die Vicekönige und die Statthalter entlegener Provinzen oder abhängiger Länder übertragen.
Da dieſe Provinzen oder Länder eine beſondere relative Sonderexiſtenz haben, ſo bedürfen ſie unter Umſtänden auch eine beſondere Vertretung. Da der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0148"n="126"/><fwplace="top"type="header">Drittes Buch.</fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">II.</hi> Andere Organe des völkerrechtlichen Verkehrs.</hi></head><lb/><divn="4"><head>5. <hirendition="#g">Recht und Pflicht des völkerrechtlichen Verkehrs</hi>.</head><lb/><divn="5"><head>159.</head><lb/><p>Jeder Stat iſt als ſouveräne Perſon berechtigt, Geſante und andere<lb/>
Agenten mit dem Auftrag zu ernennen, ſeinen Verkehr mit andern Staten<lb/>
zu vermitteln.</p><lb/><p>Dieſes ſogenannte „<hirendition="#g">active Geſantſchaftsrecht</hi>“ iſt eine Anwendung der<lb/>
Souveränetätsrechte auf die völkerrechtlichen Beziehungen der Staten zu einander.</p></div><lb/><divn="5"><head>160.</head><lb/><p>In zuſammengeſetzten Staten (Statenbünden, Bundesſtaten, Staten-<lb/>
reichen) wird dieſes Recht je nach der Verfaſſung derſelben entweder von<lb/>
den Einzelſtaten und dem Geſammtſtate, oder nur von dieſem, oder vor-<lb/>
herrſchend von jenen oder von dieſem geübt.</p><lb/><p>In der <hirendition="#g">alten Deutſchen Reichsverfaſſung</hi> hatten die Landesherrn<lb/>
das Geſantenrecht erworben, neben dem Kaiſer und Reich insgeſammt. Der <hirendition="#g">deutſche<lb/>
Bund</hi> von 1815 erkannte das vorzugsweiſe Geſantenrecht der Einzelſtaten an,<lb/>ſchloß aber eine Geſammtvertretung nicht aus. Die Verfaſſung der <hirendition="#g">Vereinigten<lb/>
Staten</hi> von Nordamerika von 1787 concentrirt das Geſantenrecht faſt ausſchließlich<lb/>
in der Hand des Präſidenten, ebenſo die <hirendition="#g">ſchweizeriſche Bundesverfaſſung</hi><lb/>
von 1848 in der des Bundesraths; beide Verfaſſungen ſchließen aber eine beſondere<lb/>
außerordentliche Vertretung der Einzelſtaten nicht völlig aus, aber ordnen dieſelbe<lb/>
der Aufſicht der Bundesgewalt unter. Auch einzelnen Türkiſchen Vaſallenſtaten iſt<lb/>
ein beſchränktes Geſantenrecht zugeſtanden worden. Die Verfaſſung des <hirendition="#g">norddeut-<lb/>ſchen Bundes</hi> weiſt die völkerrechtliche Vertretung desſelben ausſchließlich der<lb/>
Krone Preußen zu, hebt aber das Geſantenrecht der Einzelſtaten in ihren beſondern<lb/>
Intereſſen nicht auf. (Art. 11).</p></div><lb/><divn="5"><head>161.</head><lb/><p>Ausnahmsweiſe wird das Recht, einen Geſanten zu ſenden, auch auf<lb/>
die Vicekönige und die Statthalter entlegener Provinzen oder abhängiger<lb/>
Länder übertragen.</p><lb/><p>Da dieſe Provinzen oder Länder eine beſondere <hirendition="#g">relative Sonderexiſtenz</hi><lb/>
haben, ſo bedürfen ſie unter Umſtänden auch eine beſondere Vertretung. Da der<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[126/0148]
Drittes Buch.
II. Andere Organe des völkerrechtlichen Verkehrs.
5. Recht und Pflicht des völkerrechtlichen Verkehrs.
159.
Jeder Stat iſt als ſouveräne Perſon berechtigt, Geſante und andere
Agenten mit dem Auftrag zu ernennen, ſeinen Verkehr mit andern Staten
zu vermitteln.
Dieſes ſogenannte „active Geſantſchaftsrecht“ iſt eine Anwendung der
Souveränetätsrechte auf die völkerrechtlichen Beziehungen der Staten zu einander.
160.
In zuſammengeſetzten Staten (Statenbünden, Bundesſtaten, Staten-
reichen) wird dieſes Recht je nach der Verfaſſung derſelben entweder von
den Einzelſtaten und dem Geſammtſtate, oder nur von dieſem, oder vor-
herrſchend von jenen oder von dieſem geübt.
In der alten Deutſchen Reichsverfaſſung hatten die Landesherrn
das Geſantenrecht erworben, neben dem Kaiſer und Reich insgeſammt. Der deutſche
Bund von 1815 erkannte das vorzugsweiſe Geſantenrecht der Einzelſtaten an,
ſchloß aber eine Geſammtvertretung nicht aus. Die Verfaſſung der Vereinigten
Staten von Nordamerika von 1787 concentrirt das Geſantenrecht faſt ausſchließlich
in der Hand des Präſidenten, ebenſo die ſchweizeriſche Bundesverfaſſung
von 1848 in der des Bundesraths; beide Verfaſſungen ſchließen aber eine beſondere
außerordentliche Vertretung der Einzelſtaten nicht völlig aus, aber ordnen dieſelbe
der Aufſicht der Bundesgewalt unter. Auch einzelnen Türkiſchen Vaſallenſtaten iſt
ein beſchränktes Geſantenrecht zugeſtanden worden. Die Verfaſſung des norddeut-
ſchen Bundes weiſt die völkerrechtliche Vertretung desſelben ausſchließlich der
Krone Preußen zu, hebt aber das Geſantenrecht der Einzelſtaten in ihren beſondern
Intereſſen nicht auf. (Art. 11).
161.
Ausnahmsweiſe wird das Recht, einen Geſanten zu ſenden, auch auf
die Vicekönige und die Statthalter entlegener Provinzen oder abhängiger
Länder übertragen.
Da dieſe Provinzen oder Länder eine beſondere relative Sonderexiſtenz
haben, ſo bedürfen ſie unter Umſtänden auch eine beſondere Vertretung. Da der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/148>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.