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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Drittes Buch.
117.

Wer in einem Lande die Regierungsgewalt erwirbt, wird in Folge
dessen im völkerrechtlichen Verkehr als Organ der Statspersönlichkeit be-
trachtet. Mit einem siegreichen und im Lande anerkannten Usurpator
können für den Stat verbindliche Verträge abgeschlossen werden.

Die europäischen Mächte haben so abwechselnd mit dem Protector Cromwell
und später wieder mit dem König Karl II. und nach der Vertreibung Jacobs II.
mit dem Könige Wilhelm III. für England verbindliche Verträge abgeschlossen;
ebenso mit der französischen Directorialregierung, mit Napoleon I., mit
dem gewaltsam restaurirten König Ludwig XVIII., mit Ludwig Philipp,
und wieder mit der republikanischen Regierung nach 1848 und mit Napoleon III.
für Frankreich, ohne näher zu prüfen, ob diese verschiedenen Statshäupter in correcter
Rechtsform zur Regierung gelangt seien. Die wirkliche Regierung ist allein in der
Lage, für den regierten Stat zu handeln, weil sie allein im Besitz der Mittel ist,
um wirksam zu handeln. Die Repräsentation ist nur ein Theil, nur eine einzelne
Aeußerung der Regierungsthätigkeit überhaupt. Da der Stat eine lebendige Person
und nicht ein todtes System von formellen Rechten ist, so kann er nur von dem
vertreten werden, welcher in dem Stat und an der Spitze des States als lebendiges
Statsorgan dem State dient, d. h. nur von dem, der wirklich die Regierungsgewalt
ausübt oder ausüben läßt.

Wie innerhalb des States der thatsächlichen Regierung, dem "actually King"
gehorcht wird und gehorcht werden muß (Englische Parlamentsacte von Heinrich VII.
1494), so erscheint nach außen die thatsächliche Regierung des Volks und Landes
als deren natürliche Vertreter. In einer Note vom 25. März 1825 constatirte der
englische Minister die allgemeine Uebung der europäischen Staten, mit den Regie-
rungen de facto in völkerrechtlichen Verkehr zu treten. Vgl. Phillimore II. 19.
Auch die römische Kirche hat trotz ihrer legitimistischen Neigungen in neuerer Zeit,
dieselbe Maxime im Verkehr mit den Staten behauptet. Papst Gregor XVI. hat
es in einer feierlichen Erklärung vom Aug. 1831 (bei Heffter Völkerr. Anhang.
IV.) als ein Bedürfniß und einen alten Gebrauch der Kirche bezeichnet, daß dieselbe
mit denen verhandle "qui actu summa rerum potiuntur", aber sich zugleich da-
gegen verwahrt, daß darin eine Anerkennung ihrer Rechtmäßigkeit liege. Indessen
ist in der Aufnahme der völkerrechtlichen Beziehungen und in der Ertheilung der
gebräuchlichen Titel (König u. s. f.) doch die Anerkennung einer wirklichen Re-
gierung enthalten und es ist das nicht ohne Wirkung auf die neue Rechtsbildung,
indem sie die Zweifel gegen deren Bestand vermindert oder vollends beseitigt.

118.

Wer die Regierungsgewalt verliert, hört in Folge dessen auf, der
völkerrechtliche Vertreter des States zu sein.

Drittes Buch.
117.

Wer in einem Lande die Regierungsgewalt erwirbt, wird in Folge
deſſen im völkerrechtlichen Verkehr als Organ der Statsperſönlichkeit be-
trachtet. Mit einem ſiegreichen und im Lande anerkannten Uſurpator
können für den Stat verbindliche Verträge abgeſchloſſen werden.

Die europäiſchen Mächte haben ſo abwechſelnd mit dem Protector Cromwell
und ſpäter wieder mit dem König Karl II. und nach der Vertreibung Jacobs II.
mit dem Könige Wilhelm III. für England verbindliche Verträge abgeſchloſſen;
ebenſo mit der franzöſiſchen Directorialregierung, mit Napoleon I., mit
dem gewaltſam reſtaurirten König Ludwig XVIII., mit Ludwig Philipp,
und wieder mit der republikaniſchen Regierung nach 1848 und mit Napoleon III.
für Frankreich, ohne näher zu prüfen, ob dieſe verſchiedenen Statshäupter in correcter
Rechtsform zur Regierung gelangt ſeien. Die wirkliche Regierung iſt allein in der
Lage, für den regierten Stat zu handeln, weil ſie allein im Beſitz der Mittel iſt,
um wirkſam zu handeln. Die Repräſentation iſt nur ein Theil, nur eine einzelne
Aeußerung der Regierungsthätigkeit überhaupt. Da der Stat eine lebendige Perſon
und nicht ein todtes Syſtem von formellen Rechten iſt, ſo kann er nur von dem
vertreten werden, welcher in dem Stat und an der Spitze des States als lebendiges
Statsorgan dem State dient, d. h. nur von dem, der wirklich die Regierungsgewalt
ausübt oder ausüben läßt.

Wie innerhalb des States der thatſächlichen Regierung, dem „actually King“
gehorcht wird und gehorcht werden muß (Engliſche Parlamentsacte von Heinrich VII.
1494), ſo erſcheint nach außen die thatſächliche Regierung des Volks und Landes
als deren natürliche Vertreter. In einer Note vom 25. März 1825 conſtatirte der
engliſche Miniſter die allgemeine Uebung der europäiſchen Staten, mit den Regie-
rungen de facto in völkerrechtlichen Verkehr zu treten. Vgl. Phillimore II. 19.
Auch die römiſche Kirche hat trotz ihrer legitimiſtiſchen Neigungen in neuerer Zeit,
dieſelbe Maxime im Verkehr mit den Staten behauptet. Papſt Gregor XVI. hat
es in einer feierlichen Erklärung vom Aug. 1831 (bei Heffter Völkerr. Anhang.
IV.) als ein Bedürfniß und einen alten Gebrauch der Kirche bezeichnet, daß dieſelbe
mit denen verhandle „qui actu summa rerum potiuntur“, aber ſich zugleich da-
gegen verwahrt, daß darin eine Anerkennung ihrer Rechtmäßigkeit liege. Indeſſen
iſt in der Aufnahme der völkerrechtlichen Beziehungen und in der Ertheilung der
gebräuchlichen Titel (König u. ſ. f.) doch die Anerkennung einer wirklichen Re-
gierung enthalten und es iſt das nicht ohne Wirkung auf die neue Rechtsbildung,
indem ſie die Zweifel gegen deren Beſtand vermindert oder vollends beſeitigt.

118.

Wer die Regierungsgewalt verliert, hört in Folge deſſen auf, der
völkerrechtliche Vertreter des States zu ſein.

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[108/0130] Drittes Buch. 117. Wer in einem Lande die Regierungsgewalt erwirbt, wird in Folge deſſen im völkerrechtlichen Verkehr als Organ der Statsperſönlichkeit be- trachtet. Mit einem ſiegreichen und im Lande anerkannten Uſurpator können für den Stat verbindliche Verträge abgeſchloſſen werden. Die europäiſchen Mächte haben ſo abwechſelnd mit dem Protector Cromwell und ſpäter wieder mit dem König Karl II. und nach der Vertreibung Jacobs II. mit dem Könige Wilhelm III. für England verbindliche Verträge abgeſchloſſen; ebenſo mit der franzöſiſchen Directorialregierung, mit Napoleon I., mit dem gewaltſam reſtaurirten König Ludwig XVIII., mit Ludwig Philipp, und wieder mit der republikaniſchen Regierung nach 1848 und mit Napoleon III. für Frankreich, ohne näher zu prüfen, ob dieſe verſchiedenen Statshäupter in correcter Rechtsform zur Regierung gelangt ſeien. Die wirkliche Regierung iſt allein in der Lage, für den regierten Stat zu handeln, weil ſie allein im Beſitz der Mittel iſt, um wirkſam zu handeln. Die Repräſentation iſt nur ein Theil, nur eine einzelne Aeußerung der Regierungsthätigkeit überhaupt. Da der Stat eine lebendige Perſon und nicht ein todtes Syſtem von formellen Rechten iſt, ſo kann er nur von dem vertreten werden, welcher in dem Stat und an der Spitze des States als lebendiges Statsorgan dem State dient, d. h. nur von dem, der wirklich die Regierungsgewalt ausübt oder ausüben läßt. Wie innerhalb des States der thatſächlichen Regierung, dem „actually King“ gehorcht wird und gehorcht werden muß (Engliſche Parlamentsacte von Heinrich VII. 1494), ſo erſcheint nach außen die thatſächliche Regierung des Volks und Landes als deren natürliche Vertreter. In einer Note vom 25. März 1825 conſtatirte der engliſche Miniſter die allgemeine Uebung der europäiſchen Staten, mit den Regie- rungen de facto in völkerrechtlichen Verkehr zu treten. Vgl. Phillimore II. 19. Auch die römiſche Kirche hat trotz ihrer legitimiſtiſchen Neigungen in neuerer Zeit, dieſelbe Maxime im Verkehr mit den Staten behauptet. Papſt Gregor XVI. hat es in einer feierlichen Erklärung vom Aug. 1831 (bei Heffter Völkerr. Anhang. IV.) als ein Bedürfniß und einen alten Gebrauch der Kirche bezeichnet, daß dieſelbe mit denen verhandle „qui actu summa rerum potiuntur“, aber ſich zugleich da- gegen verwahrt, daß darin eine Anerkennung ihrer Rechtmäßigkeit liege. Indeſſen iſt in der Aufnahme der völkerrechtlichen Beziehungen und in der Ertheilung der gebräuchlichen Titel (König u. ſ. f.) doch die Anerkennung einer wirklichen Re- gierung enthalten und es iſt das nicht ohne Wirkung auf die neue Rechtsbildung, indem ſie die Zweifel gegen deren Beſtand vermindert oder vollends beſeitigt. 118. Wer die Regierungsgewalt verliert, hört in Folge deſſen auf, der völkerrechtliche Vertreter des States zu ſein.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/130>, abgerufen am 23.11.2024.