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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
nicht und ersetzt sie nicht durch eine Neuschöpfung. Am
Ende erstarrt die Bewegung doch in der absoluten Herrschaft
groszer und kleiner Fürsten.

2. Oefter noch wird das Zeitalter der kirchlichen
Reformation
als der Beginn der Neuzeit betrachtet. Man
denkt dabei weniger an die mangelhaften Reformversuche des
deutschen Reiches auf dem Wormser Reichstag von 1495, als
an die Kirchenreform des XVI. Jahrhunderts und rechnet
diese von dem Anschlag der Thesen Martin Luthers 31. Oct.
1517 an der Kirchenthüre zu Wittenberg.

In der That war damals der weltgeschichtliche Bruch mit
der mittelalterlichen Autorität der römischen Kirche ein voll-
ständiger und die Gründung von protestantischen Kir-
chen
war wirklich eine neue Schöpfung auf kirchlichem Ge-
biete. Die damalige Befreiung des religiösen Gewissens von
der römischen Bedrängnisz und Knechtschaft gab auch unbe-
streitbar einen mächtigen Anstosz zu der spätern Befreiung
der Wissenschaft von der Autorität des kirchlichen Glaubens
überhaupt. Die sittliche Reinigung und Erhebung der Statsidee
wirkte vorbereitend auf die Gestaltung des modernen States.

Dennoch war der Grundgedanke der deutschen Kirchen-
reform nicht eine Neubildung, sondern die Säuberung der
alten Kirche von dem Wust verjährter Miszbräuche und die
Herstellung der ursprünglichen Reinheit des Christenthums.
Die alte geschichtliche Autorität der päpstlichen Kirche und
ihrer Tradition wurde gebrochen, aber die ältere ebenfalls
geschichtliche Autorität der heiligen Schrift strenger als vor-
dem gewahrt. Das ursprüngliche Christenthum war freilich
nicht mehr herzustellen, so wenig als die classische Kunst
der Athener und der Römer durch die Renaissance der ita-
lienischen Meister herzustellen war. Die erneuerten Ideen der
alten Welt bekamen in der inzwischen umgewandelten Mensch-
heit eine neue Gestalt. Das europäische Leben war noch im
Fortschritte begriffen, und die protestantische Kirche wie der

Erstes Buch. Der Statsbegriff.
nicht und ersetzt sie nicht durch eine Neuschöpfung. Am
Ende erstarrt die Bewegung doch in der absoluten Herrschaft
groszer und kleiner Fürsten.

2. Oefter noch wird das Zeitalter der kirchlichen
Reformation
als der Beginn der Neuzeit betrachtet. Man
denkt dabei weniger an die mangelhaften Reformversuche des
deutschen Reiches auf dem Wormser Reichstag von 1495, als
an die Kirchenreform des XVI. Jahrhunderts und rechnet
diese von dem Anschlag der Thesen Martin Luthers 31. Oct.
1517 an der Kirchenthüre zu Wittenberg.

In der That war damals der weltgeschichtliche Bruch mit
der mittelalterlichen Autorität der römischen Kirche ein voll-
ständiger und die Gründung von protestantischen Kir-
chen
war wirklich eine neue Schöpfung auf kirchlichem Ge-
biete. Die damalige Befreiung des religiösen Gewissens von
der römischen Bedrängnisz und Knechtschaft gab auch unbe-
streitbar einen mächtigen Anstosz zu der spätern Befreiung
der Wissenschaft von der Autorität des kirchlichen Glaubens
überhaupt. Die sittliche Reinigung und Erhebung der Statsidee
wirkte vorbereitend auf die Gestaltung des modernen States.

Dennoch war der Grundgedanke der deutschen Kirchen-
reform nicht eine Neubildung, sondern die Säuberung der
alten Kirche von dem Wust verjährter Miszbräuche und die
Herstellung der ursprünglichen Reinheit des Christenthums.
Die alte geschichtliche Autorität der päpstlichen Kirche und
ihrer Tradition wurde gebrochen, aber die ältere ebenfalls
geschichtliche Autorität der heiligen Schrift strenger als vor-
dem gewahrt. Das ursprüngliche Christenthum war freilich
nicht mehr herzustellen, so wenig als die classische Kunst
der Athener und der Römer durch die Renaissance der ita-
lienischen Meister herzustellen war. Die erneuerten Ideen der
alten Welt bekamen in der inzwischen umgewandelten Mensch-
heit eine neue Gestalt. Das europäische Leben war noch im
Fortschritte begriffen, und die protestantische Kirche wie der

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[54/0072] Erstes Buch. Der Statsbegriff. nicht und ersetzt sie nicht durch eine Neuschöpfung. Am Ende erstarrt die Bewegung doch in der absoluten Herrschaft groszer und kleiner Fürsten. 2. Oefter noch wird das Zeitalter der kirchlichen Reformation als der Beginn der Neuzeit betrachtet. Man denkt dabei weniger an die mangelhaften Reformversuche des deutschen Reiches auf dem Wormser Reichstag von 1495, als an die Kirchenreform des XVI. Jahrhunderts und rechnet diese von dem Anschlag der Thesen Martin Luthers 31. Oct. 1517 an der Kirchenthüre zu Wittenberg. In der That war damals der weltgeschichtliche Bruch mit der mittelalterlichen Autorität der römischen Kirche ein voll- ständiger und die Gründung von protestantischen Kir- chen war wirklich eine neue Schöpfung auf kirchlichem Ge- biete. Die damalige Befreiung des religiösen Gewissens von der römischen Bedrängnisz und Knechtschaft gab auch unbe- streitbar einen mächtigen Anstosz zu der spätern Befreiung der Wissenschaft von der Autorität des kirchlichen Glaubens überhaupt. Die sittliche Reinigung und Erhebung der Statsidee wirkte vorbereitend auf die Gestaltung des modernen States. Dennoch war der Grundgedanke der deutschen Kirchen- reform nicht eine Neubildung, sondern die Säuberung der alten Kirche von dem Wust verjährter Miszbräuche und die Herstellung der ursprünglichen Reinheit des Christenthums. Die alte geschichtliche Autorität der päpstlichen Kirche und ihrer Tradition wurde gebrochen, aber die ältere ebenfalls geschichtliche Autorität der heiligen Schrift strenger als vor- dem gewahrt. Das ursprüngliche Christenthum war freilich nicht mehr herzustellen, so wenig als die classische Kunst der Athener und der Römer durch die Renaissance der ita- lienischen Meister herzustellen war. Die erneuerten Ideen der alten Welt bekamen in der inzwischen umgewandelten Mensch- heit eine neue Gestalt. Das europäische Leben war noch im Fortschritte begriffen, und die protestantische Kirche wie der

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/72>, abgerufen am 25.11.2024.