Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
sie fühlte sich nicht als eine blosze Statsanstalt. Die antike Statsidee muszte sich gefallen lassen, dasz das ganze religiöse Gemeinleben zwar nicht ganz der statlichen Sorge und dem statlichen Einflusz entzogen, aber wesentlich von dem State unabhängig erklärt werde. Die Zweiheit von Stat und Kirche, die nun sichtbar im Groszen hervortrat, ward zu einer wesent- lichen Beschränkung des Stats. Der Stat war nur noch die Gemeinschaft des Rechts und der Politik, nicht mehr zu- gleich die Gemeinschaft der Religion und des Cultus.
Als im Verfolg die Kirche in dem Papste ein sichtbares von dem Kaiser unabhängig gewordenes Haupt und in Rom ihre Hauptstadt erhalten hatte, erneuerte sie den alt-römischen Gedanken der Weltherrschaft in geistlicher Gestalt. Wenn es ihr selbst auf der Höhe ihres mittelalterlichen Ansehens nicht gelang, den Stat zu einer bloszen Kirchenanstalt zu ernie- drigen und das Eine römisch-geistliche Weltreich aufzurich- ten, so wurde doch die Statsidee auf lange Zeit durch ihre glänzendere Erscheinung weit überstrahlt. Sie konnte sich selber mit der Sonne, und den Stat mit dem Monde ver- gleichen; hinter dem "geistigen" Reiche muszte das "leib- liche" bescheiden zurückstehen. 1 Aber die Zweiheit von Stat und Kirche blieb anerkannt, und damit war in der Haupt- sache die Selbständigkeit des Stats gerettet. Auch das Schwert des Kaisers wird, wie das des Papstes von Gott abgeleitet, als dem höchsten und wahren Herrn der Welt. 2
So weit die kirchliche Lehre einwirkte, war freilich nun die Statsidee wieder, wie früher im Orient, religiös begründet, die Statsgewalt war ein Gotteslehen, aber gleichzeitig ward
1 Darüber mehr im zweiten Theil.
2Hincmari de Ordine Palatii 5: "Duo sunt, quibus principaliter -- mundus hic regitur: auctoritas sacra Pontificum et Regalis potestas." -- Sachsensp. I. 1.: "Tvei svert lit got in ertrike to bescermene de kristen- heit. Deme pavese is gesat dat geistlike, deme kaisere dat wertlike."
Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
sie fühlte sich nicht als eine blosze Statsanstalt. Die antike Statsidee muszte sich gefallen lassen, dasz das ganze religiöse Gemeinleben zwar nicht ganz der statlichen Sorge und dem statlichen Einflusz entzogen, aber wesentlich von dem State unabhängig erklärt werde. Die Zweiheit von Stat und Kirche, die nun sichtbar im Groszen hervortrat, ward zu einer wesent- lichen Beschränkung des Stats. Der Stat war nur noch die Gemeinschaft des Rechts und der Politik, nicht mehr zu- gleich die Gemeinschaft der Religion und des Cultus.
Als im Verfolg die Kirche in dem Papste ein sichtbares von dem Kaiser unabhängig gewordenes Haupt und in Rom ihre Hauptstadt erhalten hatte, erneuerte sie den alt-römischen Gedanken der Weltherrschaft in geistlicher Gestalt. Wenn es ihr selbst auf der Höhe ihres mittelalterlichen Ansehens nicht gelang, den Stat zu einer bloszen Kirchenanstalt zu ernie- drigen und das Eine römisch-geistliche Weltreich aufzurich- ten, so wurde doch die Statsidee auf lange Zeit durch ihre glänzendere Erscheinung weit überstrahlt. Sie konnte sich selber mit der Sonne, und den Stat mit dem Monde ver- gleichen; hinter dem „geistigen“ Reiche muszte das „leib- liche“ bescheiden zurückstehen. 1 Aber die Zweiheit von Stat und Kirche blieb anerkannt, und damit war in der Haupt- sache die Selbständigkeit des Stats gerettet. Auch das Schwert des Kaisers wird, wie das des Papstes von Gott abgeleitet, als dem höchsten und wahren Herrn der Welt. 2
So weit die kirchliche Lehre einwirkte, war freilich nun die Statsidee wieder, wie früher im Orient, religiös begründet, die Statsgewalt war ein Gotteslehen, aber gleichzeitig ward
1 Darüber mehr im zweiten Theil.
2Hincmari de Ordine Palatii 5: „Duo sunt, quibus principaliter — mundus hic regitur: auctoritas sacra Pontificum et Regalis potestas.“ — Sachsensp. I. 1.: „Tvei svert lit got in ertrike to bescermene de kristen- heit. Deme pavese is gesat dat geistlike, deme kaisere dat wertlike.“
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0061"n="43"/><fwplace="top"type="header">Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.</fw><lb/>
sie fühlte sich nicht als eine blosze Statsanstalt. Die antike<lb/>
Statsidee muszte sich gefallen lassen, dasz das ganze religiöse<lb/>
Gemeinleben zwar nicht ganz der statlichen Sorge und dem<lb/>
statlichen Einflusz entzogen, aber wesentlich von dem State<lb/>
unabhängig erklärt werde. Die Zweiheit von Stat und Kirche,<lb/>
die nun sichtbar im Groszen hervortrat, ward zu einer wesent-<lb/>
lichen Beschränkung des Stats. Der Stat war nur noch die<lb/>
Gemeinschaft des Rechts und der Politik, <hirendition="#g">nicht mehr zu-<lb/>
gleich die Gemeinschaft der Religion und des<lb/>
Cultus</hi>.</p><lb/><p>Als im Verfolg die Kirche in dem Papste ein sichtbares<lb/>
von dem Kaiser unabhängig gewordenes Haupt und in Rom<lb/>
ihre Hauptstadt erhalten hatte, erneuerte sie den alt-römischen<lb/>
Gedanken der Weltherrschaft in geistlicher Gestalt. Wenn es<lb/>
ihr selbst auf der Höhe ihres mittelalterlichen Ansehens nicht<lb/>
gelang, den Stat zu einer bloszen Kirchenanstalt zu ernie-<lb/>
drigen und das Eine römisch-geistliche Weltreich aufzurich-<lb/>
ten, so wurde doch die Statsidee auf lange Zeit durch ihre<lb/>
glänzendere Erscheinung weit überstrahlt. Sie konnte sich<lb/>
selber mit der Sonne, und den Stat mit dem Monde ver-<lb/>
gleichen; hinter dem „geistigen“ Reiche muszte das „leib-<lb/>
liche“ bescheiden zurückstehen. <noteplace="foot"n="1">Darüber mehr im zweiten Theil.</note> Aber die Zweiheit von Stat<lb/>
und Kirche blieb anerkannt, und damit war in der Haupt-<lb/>
sache die Selbständigkeit des Stats gerettet. Auch das Schwert<lb/>
des Kaisers wird, wie das des Papstes von Gott abgeleitet,<lb/>
als dem höchsten und wahren Herrn der Welt. <noteplace="foot"n="2"><hirendition="#i">Hincmari</hi> de Ordine Palatii 5: „Duo sunt, quibus principaliter —<lb/>
mundus hic regitur: auctoritas sacra Pontificum et Regalis potestas.“—<lb/><hirendition="#g">Sachsensp</hi>. I. 1.: „Tvei svert lit got in ertrike to bescermene de kristen-<lb/>
heit. Deme pavese is gesat dat geistlike, deme kaisere dat wertlike.“</note></p><lb/><p>So weit die kirchliche Lehre einwirkte, war freilich nun<lb/>
die Statsidee wieder, wie früher im Orient, religiös begründet,<lb/>
die Statsgewalt war ein Gotteslehen, aber gleichzeitig ward<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[43/0061]
Viertes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. II. Das Mittelalter.
sie fühlte sich nicht als eine blosze Statsanstalt. Die antike
Statsidee muszte sich gefallen lassen, dasz das ganze religiöse
Gemeinleben zwar nicht ganz der statlichen Sorge und dem
statlichen Einflusz entzogen, aber wesentlich von dem State
unabhängig erklärt werde. Die Zweiheit von Stat und Kirche,
die nun sichtbar im Groszen hervortrat, ward zu einer wesent-
lichen Beschränkung des Stats. Der Stat war nur noch die
Gemeinschaft des Rechts und der Politik, nicht mehr zu-
gleich die Gemeinschaft der Religion und des
Cultus.
Als im Verfolg die Kirche in dem Papste ein sichtbares
von dem Kaiser unabhängig gewordenes Haupt und in Rom
ihre Hauptstadt erhalten hatte, erneuerte sie den alt-römischen
Gedanken der Weltherrschaft in geistlicher Gestalt. Wenn es
ihr selbst auf der Höhe ihres mittelalterlichen Ansehens nicht
gelang, den Stat zu einer bloszen Kirchenanstalt zu ernie-
drigen und das Eine römisch-geistliche Weltreich aufzurich-
ten, so wurde doch die Statsidee auf lange Zeit durch ihre
glänzendere Erscheinung weit überstrahlt. Sie konnte sich
selber mit der Sonne, und den Stat mit dem Monde ver-
gleichen; hinter dem „geistigen“ Reiche muszte das „leib-
liche“ bescheiden zurückstehen. 1 Aber die Zweiheit von Stat
und Kirche blieb anerkannt, und damit war in der Haupt-
sache die Selbständigkeit des Stats gerettet. Auch das Schwert
des Kaisers wird, wie das des Papstes von Gott abgeleitet,
als dem höchsten und wahren Herrn der Welt. 2
So weit die kirchliche Lehre einwirkte, war freilich nun
die Statsidee wieder, wie früher im Orient, religiös begründet,
die Statsgewalt war ein Gotteslehen, aber gleichzeitig ward
1 Darüber mehr im zweiten Theil.
2 Hincmari de Ordine Palatii 5: „Duo sunt, quibus principaliter —
mundus hic regitur: auctoritas sacra Pontificum et Regalis potestas.“ —
Sachsensp. I. 1.: „Tvei svert lit got in ertrike to bescermene de kristen-
heit. Deme pavese is gesat dat geistlike, deme kaisere dat wertlike.“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/61>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.