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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.

1. Ein unmittelbarer Zusammentritt der ganzen Bürger-
schaft ist in jedem State, dessen Gebiet die Grenzen eines
bloszen Gemeinde- oder Stadtwesens überschreitet, unmög-
lich
. Die Volksversammlung des gröszern States wird daher,
wie das zu Rom in den letzten Jahrhunderten der Republik
geschehen ist, zur Unwahrheit, und es erhält das Volk, be-
ziehungsweise der Pöbel der Hauptstadt und ihrer Umgebung
ein unverhältniszmäsziges Uebergewicht.

2. Eine so grosze und immerhin sehr gemischte Ver-
sammlung ist überdem ein sehr unbeholfener Körper,
höchstens geeignet, die allgemeine Stimmung kundzugeben, einer
vorgeschlagenen bekannten Richtung seinen Beifall zu äuszern
oder dieselbe durch sein Miszfallen zu hemmen, aber durch-
aus unfähig, eine gründliche Berathung über Gesetzentwürfe
zu pflegen und die schwierigeren und verwickelteren Probleme
der Politik zu lösen.

Nur in ganz kleinen Staten und unter der Voraussetzung
sehr einfacher Lebensverhältnisse kann demnach die Gesetz-
gebung einer Volksversammlung überlassen werden.



Sechstes Capitel.
Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen.

Wenn gleich die Statsgewalt (Souveränetät) wesentlich
central und einheitlich ist, so hat doch der Stat verschiedene
Aufgaben zu erfüllen. Um deszwillen ändern sich auch, je
nach der Richtung seiner Thätigkeit, die Formen seiner
öffentlichen Functionen.

Die antike Statslehre des Aristoteles (IV. 11, 1.) unter-
schied so dreierlei Functionen: 1) die berathende (to
bouleuomenon peri ton koinon), 2) die obrigkeitliche
(to peri tar arkhas), 3) die richterliche (to dikazon).


Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.

1. Ein unmittelbarer Zusammentritt der ganzen Bürger-
schaft ist in jedem State, dessen Gebiet die Grenzen eines
bloszen Gemeinde- oder Stadtwesens überschreitet, unmög-
lich
. Die Volksversammlung des gröszern States wird daher,
wie das zu Rom in den letzten Jahrhunderten der Republik
geschehen ist, zur Unwahrheit, und es erhält das Volk, be-
ziehungsweise der Pöbel der Hauptstadt und ihrer Umgebung
ein unverhältniszmäsziges Uebergewicht.

2. Eine so grosze und immerhin sehr gemischte Ver-
sammlung ist überdem ein sehr unbeholfener Körper,
höchstens geeignet, die allgemeine Stimmung kundzugeben, einer
vorgeschlagenen bekannten Richtung seinen Beifall zu äuszern
oder dieselbe durch sein Miszfallen zu hemmen, aber durch-
aus unfähig, eine gründliche Berathung über Gesetzentwürfe
zu pflegen und die schwierigeren und verwickelteren Probleme
der Politik zu lösen.

Nur in ganz kleinen Staten und unter der Voraussetzung
sehr einfacher Lebensverhältnisse kann demnach die Gesetz-
gebung einer Volksversammlung überlassen werden.



Sechstes Capitel.
Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen.

Wenn gleich die Statsgewalt (Souveränetät) wesentlich
central und einheitlich ist, so hat doch der Stat verschiedene
Aufgaben zu erfüllen. Um deszwillen ändern sich auch, je
nach der Richtung seiner Thätigkeit, die Formen seiner
öffentlichen Functionen.

Die antike Statslehre des Aristoteles (IV. 11, 1.) unter-
schied so dreierlei Functionen: 1) die berathende (τὸ
βουλευόμενον πεϱἰ τῶν ϰοινῶν), 2) die obrigkeitliche
(τὸ πεϱὶ τὰϱ αϱχὰς), 3) die richterliche (τὸ διϰάζον).


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[584/0602] Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc. 1. Ein unmittelbarer Zusammentritt der ganzen Bürger- schaft ist in jedem State, dessen Gebiet die Grenzen eines bloszen Gemeinde- oder Stadtwesens überschreitet, unmög- lich. Die Volksversammlung des gröszern States wird daher, wie das zu Rom in den letzten Jahrhunderten der Republik geschehen ist, zur Unwahrheit, und es erhält das Volk, be- ziehungsweise der Pöbel der Hauptstadt und ihrer Umgebung ein unverhältniszmäsziges Uebergewicht. 2. Eine so grosze und immerhin sehr gemischte Ver- sammlung ist überdem ein sehr unbeholfener Körper, höchstens geeignet, die allgemeine Stimmung kundzugeben, einer vorgeschlagenen bekannten Richtung seinen Beifall zu äuszern oder dieselbe durch sein Miszfallen zu hemmen, aber durch- aus unfähig, eine gründliche Berathung über Gesetzentwürfe zu pflegen und die schwierigeren und verwickelteren Probleme der Politik zu lösen. Nur in ganz kleinen Staten und unter der Voraussetzung sehr einfacher Lebensverhältnisse kann demnach die Gesetz- gebung einer Volksversammlung überlassen werden. Sechstes Capitel. Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen. Wenn gleich die Statsgewalt (Souveränetät) wesentlich central und einheitlich ist, so hat doch der Stat verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Um deszwillen ändern sich auch, je nach der Richtung seiner Thätigkeit, die Formen seiner öffentlichen Functionen. Die antike Statslehre des Aristoteles (IV. 11, 1.) unter- schied so dreierlei Functionen: 1) die berathende (τὸ βουλευόμενον πεϱἰ τῶν ϰοινῶν), 2) die obrigkeitliche (τὸ πεϱὶ τὰϱ αϱχὰς), 3) die richterliche (τὸ διϰάζον).

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 584. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/602>, abgerufen am 22.11.2024.