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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Volk und spricht der Nation das Recht zu, den Stat beliebig
umzubilden.

Wir haben in der "Nation" die Anlage zur Volksbildung,
d. h. zum State anerkannt (Buch II. Cap. 2) und müssen daher
zugestehen, dasz damit mittelbar auch die Anlage zur Aus-
bildung der Statshoheit anerkannt ist. Aber nicht mehr als
die ursprüngliche Kraft, noch nicht ihre Bethätigung, die
leere Möglichkeit, noch nicht ihre Verwirklichung.

Die Volkssouveränetät in diesem Sinne, oder wie sie nach
dem deutschen Sprachgebrauch richtiger genannt würde, die
Nationalsouveränetät ist demnach ein unreifer, unentwickelter,
vorstatlicher Gedanke, der erst die Statenbildung abwarten
musz, um dann in statlicher Gestalt wirklich zu werden.

6. Man kann aber und man musz sogar das Volk in
statlichem Sinne verstehen, als die geordnete Gesammt-
heit in Haupt und Gliedern
, die wir als die lebendige
Seele der Statspersönlichkeit anerkennen.

Inwiefern der Stat als Person erscheint, insofern kommt
ihm ohne Zweifel Unabhängigkeit, höchste Ehre, Machtfülle,
oberste Autorität, Einheit d. h. Souveränetät zu. Der Stat
als Person ist souverän. Deszhalb nennen wir diese Sou-
veränetät Statssouveränetät.

Sie ist nicht vor dem State, noch auszer dem State, noch
über dem State, sie ist die Macht und Hoheit des States
selbst. Sie ist das Recht des Ganzen und so gewisz das
Ganze mächtiger ist, als irgend ein Theil des Ganzen, so ge-
wisz ist auch die Souveränetät des ganzen States der Souve-
ränetät eines einzelnen Gliedes im State überlegen.

Wäre nicht die Sprache durch die Parteikämpfe verwirrt,
so könnten wir diese Statssouveränetät schicklicherweise Volks-
souveränetät heiszen, indem wir unter Volk nicht eine aufge-
löste Menge von Individuen, sondern die politisch gegliederte
Gesammtheit verstehen, in welcher das Haupt die oberste und
jedes einzelne Glied die seiner Natur gemäsze Stellung und

Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Volk und spricht der Nation das Recht zu, den Stat beliebig
umzubilden.

Wir haben in der „Nation“ die Anlage zur Volksbildung,
d. h. zum State anerkannt (Buch II. Cap. 2) und müssen daher
zugestehen, dasz damit mittelbar auch die Anlage zur Aus-
bildung der Statshoheit anerkannt ist. Aber nicht mehr als
die ursprüngliche Kraft, noch nicht ihre Bethätigung, die
leere Möglichkeit, noch nicht ihre Verwirklichung.

Die Volkssouveränetät in diesem Sinne, oder wie sie nach
dem deutschen Sprachgebrauch richtiger genannt würde, die
Nationalsouveränetät ist demnach ein unreifer, unentwickelter,
vorstatlicher Gedanke, der erst die Statenbildung abwarten
musz, um dann in statlicher Gestalt wirklich zu werden.

6. Man kann aber und man musz sogar das Volk in
statlichem Sinne verstehen, als die geordnete Gesammt-
heit in Haupt und Gliedern
, die wir als die lebendige
Seele der Statspersönlichkeit anerkennen.

Inwiefern der Stat als Person erscheint, insofern kommt
ihm ohne Zweifel Unabhängigkeit, höchste Ehre, Machtfülle,
oberste Autorität, Einheit d. h. Souveränetät zu. Der Stat
als Person ist souverän. Deszhalb nennen wir diese Sou-
veränetät Statssouveränetät.

Sie ist nicht vor dem State, noch auszer dem State, noch
über dem State, sie ist die Macht und Hoheit des States
selbst. Sie ist das Recht des Ganzen und so gewisz das
Ganze mächtiger ist, als irgend ein Theil des Ganzen, so ge-
wisz ist auch die Souveränetät des ganzen States der Souve-
ränetät eines einzelnen Gliedes im State überlegen.

Wäre nicht die Sprache durch die Parteikämpfe verwirrt,
so könnten wir diese Statssouveränetät schicklicherweise Volks-
souveränetät heiszen, indem wir unter Volk nicht eine aufge-
löste Menge von Individuen, sondern die politisch gegliederte
Gesammtheit verstehen, in welcher das Haupt die oberste und
jedes einzelne Glied die seiner Natur gemäsze Stellung und

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[570/0588] Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc. Volk und spricht der Nation das Recht zu, den Stat beliebig umzubilden. Wir haben in der „Nation“ die Anlage zur Volksbildung, d. h. zum State anerkannt (Buch II. Cap. 2) und müssen daher zugestehen, dasz damit mittelbar auch die Anlage zur Aus- bildung der Statshoheit anerkannt ist. Aber nicht mehr als die ursprüngliche Kraft, noch nicht ihre Bethätigung, die leere Möglichkeit, noch nicht ihre Verwirklichung. Die Volkssouveränetät in diesem Sinne, oder wie sie nach dem deutschen Sprachgebrauch richtiger genannt würde, die Nationalsouveränetät ist demnach ein unreifer, unentwickelter, vorstatlicher Gedanke, der erst die Statenbildung abwarten musz, um dann in statlicher Gestalt wirklich zu werden. 6. Man kann aber und man musz sogar das Volk in statlichem Sinne verstehen, als die geordnete Gesammt- heit in Haupt und Gliedern, die wir als die lebendige Seele der Statspersönlichkeit anerkennen. Inwiefern der Stat als Person erscheint, insofern kommt ihm ohne Zweifel Unabhängigkeit, höchste Ehre, Machtfülle, oberste Autorität, Einheit d. h. Souveränetät zu. Der Stat als Person ist souverän. Deszhalb nennen wir diese Sou- veränetät Statssouveränetät. Sie ist nicht vor dem State, noch auszer dem State, noch über dem State, sie ist die Macht und Hoheit des States selbst. Sie ist das Recht des Ganzen und so gewisz das Ganze mächtiger ist, als irgend ein Theil des Ganzen, so ge- wisz ist auch die Souveränetät des ganzen States der Souve- ränetät eines einzelnen Gliedes im State überlegen. Wäre nicht die Sprache durch die Parteikämpfe verwirrt, so könnten wir diese Statssouveränetät schicklicherweise Volks- souveränetät heiszen, indem wir unter Volk nicht eine aufge- löste Menge von Individuen, sondern die politisch gegliederte Gesammtheit verstehen, in welcher das Haupt die oberste und jedes einzelne Glied die seiner Natur gemäsze Stellung und

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/588>, abgerufen am 06.05.2024.