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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Nation laut erklärt, dasz die Souveränetät nur dem Volke zuge-
hört, welches in der Ausübung seines höchsten Willens durch
die Rechte der folgenden Geschlechter beschränkt, keine un-
widerrufliche Macht
übertragen kann; sie hat offen aner-
kannt, dasz kein Herkommen, kein gesetzlicher Ausspruch,
keine Willenserklärung, kein Vertrag eine Gesellschaft
von Menschen
einer Autorität unterwerfen kann, so dasz
sie nicht mehr das Recht hätte, dieselbe zurückzunehmen.
Jedes Volk hat allein die Macht, sich seine Gesetze zu geben,
und das unveräuszerliche Recht, dieselben zu ändern. Dieses
Recht gebührt entweder gar keinem oder allen mit vollem
Fuge." Der nachherige Convent enthüllte die weitern Con-
sequenzen dieses Princips nach der Zerstörung des Königthums.

Aber auch in unsern Tagen haben wir wieder die that-
sächliche Verkündigung des nämlichen Grundsatzes auf dem
Stadthause zu Paris erlebt. Durch einen solchen souveränen
Act der aufgeregten Pariser Bevölkerung wurde im Februar
1848 die constitutionelle Monarchie abgeschafft, die Republik
proclamirt und die Dictatur eines improvisirten Regierungs-
ausschusses eingesetzt. In einer von Lamartine selber re-
digirten officiellen Kundmachung heiszt es wörtlich: "Jeder
Franzose, der das Mannesalter erreicht hat, ist Statsbürger,
jeder Bürger ist Wähler. Jeder Wähler ist Souverän.
Das Recht ist gleich und es ist ein absolutes für Alle. Es
kann kein Bürger zum andern sagen: Du bist in höherem
Masze Souverän als ich. Erwäget Eure Macht, bereitet Euch
dieselbe auszuüben und seid würdig, in den Besitz Eurer
Herrschaft einzutreten." 2

4. Zwar wohlgemeint aber unbefriedigend sind die Ver-
suche einzelner französischer Statsmänner, dem verderblichen
Begriffe jener Volkssouveränetät, welcher entweder alles Stats-
recht auflöst, um die Statshoheit zu begründen, oder alle

2 Lamartine, histoire de la revolution de 1848, II. p. 449.

Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc.
Nation laut erklärt, dasz die Souveränetät nur dem Volke zuge-
hört, welches in der Ausübung seines höchsten Willens durch
die Rechte der folgenden Geschlechter beschränkt, keine un-
widerrufliche Macht
übertragen kann; sie hat offen aner-
kannt, dasz kein Herkommen, kein gesetzlicher Ausspruch,
keine Willenserklärung, kein Vertrag eine Gesellschaft
von Menschen
einer Autorität unterwerfen kann, so dasz
sie nicht mehr das Recht hätte, dieselbe zurückzunehmen.
Jedes Volk hat allein die Macht, sich seine Gesetze zu geben,
und das unveräuszerliche Recht, dieselben zu ändern. Dieses
Recht gebührt entweder gar keinem oder allen mit vollem
Fuge.“ Der nachherige Convent enthüllte die weitern Con-
sequenzen dieses Princips nach der Zerstörung des Königthums.

Aber auch in unsern Tagen haben wir wieder die that-
sächliche Verkündigung des nämlichen Grundsatzes auf dem
Stadthause zu Paris erlebt. Durch einen solchen souveränen
Act der aufgeregten Pariser Bevölkerung wurde im Februar
1848 die constitutionelle Monarchie abgeschafft, die Republik
proclamirt und die Dictatur eines improvisirten Regierungs-
ausschusses eingesetzt. In einer von Lamartine selber re-
digirten officiellen Kundmachung heiszt es wörtlich: „Jeder
Franzose, der das Mannesalter erreicht hat, ist Statsbürger,
jeder Bürger ist Wähler. Jeder Wähler ist Souverän.
Das Recht ist gleich und es ist ein absolutes für Alle. Es
kann kein Bürger zum andern sagen: Du bist in höherem
Masze Souverän als ich. Erwäget Eure Macht, bereitet Euch
dieselbe auszuüben und seid würdig, in den Besitz Eurer
Herrschaft einzutreten.“ 2

4. Zwar wohlgemeint aber unbefriedigend sind die Ver-
suche einzelner französischer Statsmänner, dem verderblichen
Begriffe jener Volkssouveränetät, welcher entweder alles Stats-
recht auflöst, um die Statshoheit zu begründen, oder alle

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[568/0586] Siebentes Buch. Statshoheit und Statsgewalt etc. Nation laut erklärt, dasz die Souveränetät nur dem Volke zuge- hört, welches in der Ausübung seines höchsten Willens durch die Rechte der folgenden Geschlechter beschränkt, keine un- widerrufliche Macht übertragen kann; sie hat offen aner- kannt, dasz kein Herkommen, kein gesetzlicher Ausspruch, keine Willenserklärung, kein Vertrag eine Gesellschaft von Menschen einer Autorität unterwerfen kann, so dasz sie nicht mehr das Recht hätte, dieselbe zurückzunehmen. Jedes Volk hat allein die Macht, sich seine Gesetze zu geben, und das unveräuszerliche Recht, dieselben zu ändern. Dieses Recht gebührt entweder gar keinem oder allen mit vollem Fuge.“ Der nachherige Convent enthüllte die weitern Con- sequenzen dieses Princips nach der Zerstörung des Königthums. Aber auch in unsern Tagen haben wir wieder die that- sächliche Verkündigung des nämlichen Grundsatzes auf dem Stadthause zu Paris erlebt. Durch einen solchen souveränen Act der aufgeregten Pariser Bevölkerung wurde im Februar 1848 die constitutionelle Monarchie abgeschafft, die Republik proclamirt und die Dictatur eines improvisirten Regierungs- ausschusses eingesetzt. In einer von Lamartine selber re- digirten officiellen Kundmachung heiszt es wörtlich: „Jeder Franzose, der das Mannesalter erreicht hat, ist Statsbürger, jeder Bürger ist Wähler. Jeder Wähler ist Souverän. Das Recht ist gleich und es ist ein absolutes für Alle. Es kann kein Bürger zum andern sagen: Du bist in höherem Masze Souverän als ich. Erwäget Eure Macht, bereitet Euch dieselbe auszuüben und seid würdig, in den Besitz Eurer Herrschaft einzutreten.“ 2 4. Zwar wohlgemeint aber unbefriedigend sind die Ver- suche einzelner französischer Statsmänner, dem verderblichen Begriffe jener Volkssouveränetät, welcher entweder alles Stats- recht auflöst, um die Statshoheit zu begründen, oder alle 2 Lamartine, histoire de la révolution de 1848, II. p. 449.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 568. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/586>, abgerufen am 06.05.2024.