(Vernunft), männlichem Muthe und sinnlichen Begierden be- steht, und wie Intelligenz und Muth die Begierde zu beherr- schen bestimmt sind, so sollen in dem Platonischen Stats- ideal die Weisen herrschen, die tapfern Krieger die Ge- meinschaft schützen und sind die mit dem äuszern Erwerb und der leiblichen Arbeit beschäftigten Classen den beiden höheren Ständen unterthänig. In dem Staatskörper soll die Gerechtigkeit alle Verhältnisse ihrer Natur nach ordnen.
Aristoteles, für dessen Statslehre unsere Bewunderung steigt, je näher wir die Arbeiten seiner Nachfolger betrachten, läszt sich weniger als Platon von der Phantasie leiten, prüft vorsichtiger die realen Grundlagen und erkennt schärfer die Bedürfnisse des Menschen. Während Platon die regierenden Classen der Weisen und der Wächter, damit sie ganz und gar dem State leben, von der Familie ablöst, und für sie Weiber- und Gütergemeinschaft fordert, will Aristoteles im Gegentheil die groszen Institutionen der Ehe, der Familie und des Privateigenthums erhalten. Er erklärt den Stat als die Gemeinschaft von Geschlechtern und Ortschaften (Volk und Land) zu einem vollkommenen und in sich befriedigen- den Leben. 1 Er nennt auch den Menschen ein "von Natur politisches Wesen," und betrachtet den Stat als Product der menschlichen Natur. Der Stat, sagt er, zunächst zur Sicher- heit des gemeinsamen Lebens gegründet, wird im Verfolg zur Wohlfahrt des gemeinen Lebens. 2
Es begegnen sich und mischen sich in dieser Stastidee alle gemeinsamen Bestrebungen der Hellenen in Religion und in Recht, in Sitte und Geselligkeit, in Kunst und Wissen- schaft, in Eigenthum und Wirthschaft, in Handel und Hand- werk. Nur im Stat wird der einzelne Mensch als ein Rechts-
1Aristot. Polit. III. 5., 14. polis de e genon kai komon koinonia zoes teleias kai autarkous." Vgl. III. 1. 8.
2Aristot. Polit. I. 1., 8. 9. e polis -- ginomene men oun tou zen eneken, ousa de toi eu zen.
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
(Vernunft), männlichem Muthe und sinnlichen Begierden be- steht, und wie Intelligenz und Muth die Begierde zu beherr- schen bestimmt sind, so sollen in dem Platonischen Stats- ideal die Weisen herrschen, die tapfern Krieger die Ge- meinschaft schützen und sind die mit dem äuszern Erwerb und der leiblichen Arbeit beschäftigten Classen den beiden höheren Ständen unterthänig. In dem Staatskörper soll die Gerechtigkeit alle Verhältnisse ihrer Natur nach ordnen.
Aristoteles, für dessen Statslehre unsere Bewunderung steigt, je näher wir die Arbeiten seiner Nachfolger betrachten, läszt sich weniger als Platon von der Phantasie leiten, prüft vorsichtiger die realen Grundlagen und erkennt schärfer die Bedürfnisse des Menschen. Während Platon die regierenden Classen der Weisen und der Wächter, damit sie ganz und gar dem State leben, von der Familie ablöst, und für sie Weiber- und Gütergemeinschaft fordert, will Aristoteles im Gegentheil die groszen Institutionen der Ehe, der Familie und des Privateigenthums erhalten. Er erklärt den Stat als die Gemeinschaft von Geschlechtern und Ortschaften (Volk und Land) zu einem vollkommenen und in sich befriedigen- den Leben. 1 Er nennt auch den Menschen ein „von Natur politisches Wesen,“ und betrachtet den Stat als Product der menschlichen Natur. Der Stat, sagt er, zunächst zur Sicher- heit des gemeinsamen Lebens gegründet, wird im Verfolg zur Wohlfahrt des gemeinen Lebens. 2
Es begegnen sich und mischen sich in dieser Stastidee alle gemeinsamen Bestrebungen der Hellenen in Religion und in Recht, in Sitte und Geselligkeit, in Kunst und Wissen- schaft, in Eigenthum und Wirthschaft, in Handel und Hand- werk. Nur im Stat wird der einzelne Mensch als ein Rechts-
1Aristot. Polit. III. 5., 14. πόλις δὲ ἡ γενῶν ϰαὶ ϰωμῶν ϰοινωνία ζωῆς τελείας ϰαὶ αὐτάϱϰους.“ Vgl. III. 1. 8.
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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
(Vernunft), männlichem Muthe und sinnlichen Begierden be-
steht, und wie Intelligenz und Muth die Begierde zu beherr-
schen bestimmt sind, so sollen in dem Platonischen Stats-
ideal die Weisen herrschen, die tapfern Krieger die Ge-
meinschaft schützen und sind die mit dem äuszern Erwerb
und der leiblichen Arbeit beschäftigten Classen den beiden
höheren Ständen unterthänig. In dem Staatskörper soll die
Gerechtigkeit alle Verhältnisse ihrer Natur nach ordnen.
Aristoteles, für dessen Statslehre unsere Bewunderung
steigt, je näher wir die Arbeiten seiner Nachfolger betrachten,
läszt sich weniger als Platon von der Phantasie leiten, prüft
vorsichtiger die realen Grundlagen und erkennt schärfer die
Bedürfnisse des Menschen. Während Platon die regierenden
Classen der Weisen und der Wächter, damit sie ganz und
gar dem State leben, von der Familie ablöst, und für sie
Weiber- und Gütergemeinschaft fordert, will Aristoteles im
Gegentheil die groszen Institutionen der Ehe, der Familie
und des Privateigenthums erhalten. Er erklärt den Stat als
die Gemeinschaft von Geschlechtern und Ortschaften (Volk
und Land) zu einem vollkommenen und in sich befriedigen-
den Leben. 1 Er nennt auch den Menschen ein „von Natur
politisches Wesen,“ und betrachtet den Stat als Product der
menschlichen Natur. Der Stat, sagt er, zunächst zur Sicher-
heit des gemeinsamen Lebens gegründet, wird im Verfolg
zur Wohlfahrt des gemeinen Lebens. 2
Es begegnen sich und mischen sich in dieser Stastidee
alle gemeinsamen Bestrebungen der Hellenen in Religion und
in Recht, in Sitte und Geselligkeit, in Kunst und Wissen-
schaft, in Eigenthum und Wirthschaft, in Handel und Hand-
werk. Nur im Stat wird der einzelne Mensch als ein Rechts-
1 Aristot. Polit. III. 5., 14. πόλις δὲ ἡ γενῶν ϰαὶ ϰωμῶν ϰοινωνία ζωῆς
τελείας ϰαὶ αὐτάϱϰους.“ Vgl. III. 1. 8.
2 Aristot. Polit. I. 1., 8. 9. ἡ πόλις — γινομένη μὲν οὐν τοῦ ζῆν
ἕνεϰεν, οὐσα δἐ τοῖ εὗ ζῆν.
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/56>, abgerufen am 24.11.2024.
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