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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
Athener ihre ersten Männer und Wohlthäter verwiesen haben.
Aber es ist ein bedenkliches Zeugnisz für den Werth der de-
mokratischen Statsform, dasz sie eher noch die Schlechtig-
keit der Massen, als die hervorragende Grösze einzelner In-
dividuen erträgt.

Fassen wir das Resultat dieser Untersuchung zusammen.
Die unmittelbare Demokratie, wie sie vorzüglich in den
griechischen Staten erschienen ist, ist eine zunächst nur für
kleine, und vorzüglich für einfache und gleichmäszig in alter
frommer Sitte verharrende, Ackerbau oder Viehzucht treibende
Völkerschaften geeignete, 6 für höhere Culturvölker und reichere
Lebensverhältnisse aber momentan zwar anregende, aber in
kurzem verderbliche und ungenügende Statsform. Unter der
erstern Voraussetzung erscheint sie sowohl natürlicher als ge-
mäszigter, unter der letzteren dagegen zur Uebertreibung und
Schrankenlosigkeit geneigt. Die Freiheit, welche sie ver-
spricht, wird dann leicht zu ungerechter Bedrückung gerade
der edleren Elemente, und zu roher Herrschsucht und Zügel-
losigkeit der Menge, und die Gleichheit, auf welcher sie be-
ruht, ist, sobald das entwickeltere Leben seine Gegensätze und
Unterschiede hervorgebracht hat, eine augenfällige Lüge und
das entschiedenste Unrecht. 7



6 Aristoteles Polit. VI. 2, 1 ff. führt diesen Gedanken, welcher in
Griechenland schon und später in der Schweiz durch die Erfahrung
bewährt wurde, näher aus.
7 Sehr wahr sagt Cicero de Rep. I. 26: "Quum omnia per populum
geruntur quamvis justum atque moderatum, tamen aequabilitas est iniqua,
quum habeat nullos gradus dignitatis."

Sechstes Buch. Die Statsformen.
Athener ihre ersten Männer und Wohlthäter verwiesen haben.
Aber es ist ein bedenkliches Zeugnisz für den Werth der de-
mokratischen Statsform, dasz sie eher noch die Schlechtig-
keit der Massen, als die hervorragende Grösze einzelner In-
dividuen erträgt.

Fassen wir das Resultat dieser Untersuchung zusammen.
Die unmittelbare Demokratie, wie sie vorzüglich in den
griechischen Staten erschienen ist, ist eine zunächst nur für
kleine, und vorzüglich für einfache und gleichmäszig in alter
frommer Sitte verharrende, Ackerbau oder Viehzucht treibende
Völkerschaften geeignete, 6 für höhere Culturvölker und reichere
Lebensverhältnisse aber momentan zwar anregende, aber in
kurzem verderbliche und ungenügende Statsform. Unter der
erstern Voraussetzung erscheint sie sowohl natürlicher als ge-
mäszigter, unter der letzteren dagegen zur Uebertreibung und
Schrankenlosigkeit geneigt. Die Freiheit, welche sie ver-
spricht, wird dann leicht zu ungerechter Bedrückung gerade
der edleren Elemente, und zu roher Herrschsucht und Zügel-
losigkeit der Menge, und die Gleichheit, auf welcher sie be-
ruht, ist, sobald das entwickeltere Leben seine Gegensätze und
Unterschiede hervorgebracht hat, eine augenfällige Lüge und
das entschiedenste Unrecht. 7



6 Aristoteles Polit. VI. 2, 1 ff. führt diesen Gedanken, welcher in
Griechenland schon und später in der Schweiz durch die Erfahrung
bewährt wurde, näher aus.
7 Sehr wahr sagt Cicero de Rep. I. 26: „Quum omnia per populum
geruntur quamvis justum atque moderatum, tamen aequabilitas est iniqua,
quum habeat nullos gradus dignitatis.“
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[536/0554] Sechstes Buch. Die Statsformen. Athener ihre ersten Männer und Wohlthäter verwiesen haben. Aber es ist ein bedenkliches Zeugnisz für den Werth der de- mokratischen Statsform, dasz sie eher noch die Schlechtig- keit der Massen, als die hervorragende Grösze einzelner In- dividuen erträgt. Fassen wir das Resultat dieser Untersuchung zusammen. Die unmittelbare Demokratie, wie sie vorzüglich in den griechischen Staten erschienen ist, ist eine zunächst nur für kleine, und vorzüglich für einfache und gleichmäszig in alter frommer Sitte verharrende, Ackerbau oder Viehzucht treibende Völkerschaften geeignete, 6 für höhere Culturvölker und reichere Lebensverhältnisse aber momentan zwar anregende, aber in kurzem verderbliche und ungenügende Statsform. Unter der erstern Voraussetzung erscheint sie sowohl natürlicher als ge- mäszigter, unter der letzteren dagegen zur Uebertreibung und Schrankenlosigkeit geneigt. Die Freiheit, welche sie ver- spricht, wird dann leicht zu ungerechter Bedrückung gerade der edleren Elemente, und zu roher Herrschsucht und Zügel- losigkeit der Menge, und die Gleichheit, auf welcher sie be- ruht, ist, sobald das entwickeltere Leben seine Gegensätze und Unterschiede hervorgebracht hat, eine augenfällige Lüge und das entschiedenste Unrecht. 7 6 Aristoteles Polit. VI. 2, 1 ff. führt diesen Gedanken, welcher in Griechenland schon und später in der Schweiz durch die Erfahrung bewährt wurde, näher aus. 7 Sehr wahr sagt Cicero de Rep. I. 26: „Quum omnia per populum geruntur quamvis justum atque moderatum, tamen aequabilitas est iniqua, quum habeat nullos gradus dignitatis.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/554>, abgerufen am 25.11.2024.