Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.Sechstes Buch. Die Statsformen. vertrauter mit den groszen Gesetzen der Geschichte, und demGesammtleben der Völker. Seine politischen Fähigkeiten wer- den ausgebildeter, seine Kräfte gesteigert, und im Verkehr mit denselben Classen anders regierter Völker zeigt er sich in manchen Dingen diesen überlegen. Aber bald läszt jene Scheu und Achtung nach, und es nimmt zugleich, da die wohlthätige Zweiheit der andern Statsformen, der Regent und die Regier- ten, hier fehlt, das Gefühl einer äuszerlich nicht beschränkten Macht und der Miszbrauch derselben überhand. Dann kommen die schlechten Eigenschaften in der Masse zu zügelloser Ent- faltung, und gerade die bessere und edlere Minderheit, deren Dasein schon die niedrige Menge wie einen Vorwurf empfindet, und wie einen Protest gegen ihre Herrschaft betrachtet, wird nun beneidet, gehaszt und unterdrückt. Uebermuth, Launen- haftigkeit, Maszlosigkeit, die Sucht zu häufiger und eitler Neuerung, Willkür, Rohheit wuchern in dem Demos empor, und je weniger er in Wahrheit sich selbst beherrscht, desto drückender wird seine Herrschaft über andere. Es bilden sich Parteien, in welchen der Hasz gegen einander stärker ist als die Liebe zu dem gemeinsamen Vaterlande, und welche dieses zerfleischen, indem sie einander auf Tod und Leben bekäm- pfen. Der Stat verfällt in wechselnde Schwankungen voller Unsicherheit und Gefahr, und geht in dem Uebermasz der Beweglichkeit zu Grunde. So war die Blüthezeit der athe- nischen Demokratie zwar überaus glänzend, aber sehr kurz, und ein langer Verfall, von dem sich der Stat nicht wieder erholte, folgte ihr auf dem Fusze nach. 3 Eine charakteristische Eigenschaft jeder Demokratie ist 3 Die Glanzperiode beginnt mit Klisthenes 510 v. Chr., welcher zu-
erst die reine Demokratie einführte, und endigt schon mit dem Tode des Perikles 428, hat also nur etwa 82 Jahre gedauert. Sechstes Buch. Die Statsformen. vertrauter mit den groszen Gesetzen der Geschichte, und demGesammtleben der Völker. Seine politischen Fähigkeiten wer- den ausgebildeter, seine Kräfte gesteigert, und im Verkehr mit denselben Classen anders regierter Völker zeigt er sich in manchen Dingen diesen überlegen. Aber bald läszt jene Scheu und Achtung nach, und es nimmt zugleich, da die wohlthätige Zweiheit der andern Statsformen, der Regent und die Regier- ten, hier fehlt, das Gefühl einer äuszerlich nicht beschränkten Macht und der Miszbrauch derselben überhand. Dann kommen die schlechten Eigenschaften in der Masse zu zügelloser Ent- faltung, und gerade die bessere und edlere Minderheit, deren Dasein schon die niedrige Menge wie einen Vorwurf empfindet, und wie einen Protest gegen ihre Herrschaft betrachtet, wird nun beneidet, gehaszt und unterdrückt. Uebermuth, Launen- haftigkeit, Maszlosigkeit, die Sucht zu häufiger und eitler Neuerung, Willkür, Rohheit wuchern in dem Demos empor, und je weniger er in Wahrheit sich selbst beherrscht, desto drückender wird seine Herrschaft über andere. Es bilden sich Parteien, in welchen der Hasz gegen einander stärker ist als die Liebe zu dem gemeinsamen Vaterlande, und welche dieses zerfleischen, indem sie einander auf Tod und Leben bekäm- pfen. Der Stat verfällt in wechselnde Schwankungen voller Unsicherheit und Gefahr, und geht in dem Uebermasz der Beweglichkeit zu Grunde. So war die Blüthezeit der athe- nischen Demokratie zwar überaus glänzend, aber sehr kurz, und ein langer Verfall, von dem sich der Stat nicht wieder erholte, folgte ihr auf dem Fusze nach. 3 Eine charakteristische Eigenschaft jeder Demokratie ist 3 Die Glanzperiode beginnt mit Klisthenes 510 v. Chr., welcher zu-
erst die reine Demokratie einführte, und endigt schon mit dem Tode des Perikles 428, hat also nur etwa 82 Jahre gedauert. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0552" n="534"/><fw place="top" type="header">Sechstes Buch. Die Statsformen.</fw><lb/> vertrauter mit den groszen Gesetzen der Geschichte, und dem<lb/> Gesammtleben der Völker. Seine politischen Fähigkeiten wer-<lb/> den ausgebildeter, seine Kräfte gesteigert, und im Verkehr<lb/> mit denselben Classen anders regierter Völker zeigt er sich in<lb/> manchen Dingen diesen überlegen. Aber bald läszt jene Scheu<lb/> und Achtung nach, und es nimmt zugleich, da die wohlthätige<lb/> Zweiheit der andern Statsformen, der Regent und die Regier-<lb/> ten, hier fehlt, das Gefühl einer äuszerlich nicht beschränkten<lb/> Macht und der Miszbrauch derselben überhand. Dann kommen<lb/> die schlechten Eigenschaften in der Masse zu zügelloser Ent-<lb/> faltung, und gerade die bessere und edlere Minderheit, deren<lb/> Dasein schon die niedrige Menge wie einen Vorwurf empfindet,<lb/> und wie einen Protest gegen ihre Herrschaft betrachtet, wird<lb/> nun beneidet, gehaszt und unterdrückt. Uebermuth, Launen-<lb/> haftigkeit, Maszlosigkeit, die Sucht zu häufiger und eitler<lb/> Neuerung, Willkür, Rohheit wuchern in dem Demos empor,<lb/> und je weniger er in Wahrheit sich selbst beherrscht, desto<lb/> drückender wird seine Herrschaft über andere. Es bilden sich<lb/> Parteien, in welchen der Hasz gegen einander stärker ist als<lb/> die Liebe zu dem gemeinsamen Vaterlande, und welche dieses<lb/> zerfleischen, indem sie einander auf Tod und Leben bekäm-<lb/> pfen. Der Stat verfällt in wechselnde Schwankungen voller<lb/> Unsicherheit und Gefahr, und geht in dem Uebermasz der<lb/> Beweglichkeit zu Grunde. So war die Blüthezeit der athe-<lb/> nischen Demokratie zwar überaus glänzend, aber sehr kurz,<lb/> und ein langer Verfall, von dem sich der Stat nicht wieder<lb/> erholte, folgte ihr auf dem Fusze nach. <note place="foot" n="3">Die Glanzperiode beginnt mit Klisthenes 510 v. Chr., welcher zu-<lb/> erst die reine Demokratie einführte, und endigt schon mit dem Tode<lb/> des Perikles 428, hat also nur etwa 82 Jahre gedauert.</note></p><lb/> <p>Eine charakteristische Eigenschaft jeder Demokratie ist<lb/> die Vorliebe für das Princip der <hi rendition="#g">Gleichheit</hi>. In Athen<lb/> wurde die politische Gleichheit der Bürger in ihrer Einseitig-<lb/> keit so consequent ausgebildet, wie in den neueren Demo-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [534/0552]
Sechstes Buch. Die Statsformen.
vertrauter mit den groszen Gesetzen der Geschichte, und dem
Gesammtleben der Völker. Seine politischen Fähigkeiten wer-
den ausgebildeter, seine Kräfte gesteigert, und im Verkehr
mit denselben Classen anders regierter Völker zeigt er sich in
manchen Dingen diesen überlegen. Aber bald läszt jene Scheu
und Achtung nach, und es nimmt zugleich, da die wohlthätige
Zweiheit der andern Statsformen, der Regent und die Regier-
ten, hier fehlt, das Gefühl einer äuszerlich nicht beschränkten
Macht und der Miszbrauch derselben überhand. Dann kommen
die schlechten Eigenschaften in der Masse zu zügelloser Ent-
faltung, und gerade die bessere und edlere Minderheit, deren
Dasein schon die niedrige Menge wie einen Vorwurf empfindet,
und wie einen Protest gegen ihre Herrschaft betrachtet, wird
nun beneidet, gehaszt und unterdrückt. Uebermuth, Launen-
haftigkeit, Maszlosigkeit, die Sucht zu häufiger und eitler
Neuerung, Willkür, Rohheit wuchern in dem Demos empor,
und je weniger er in Wahrheit sich selbst beherrscht, desto
drückender wird seine Herrschaft über andere. Es bilden sich
Parteien, in welchen der Hasz gegen einander stärker ist als
die Liebe zu dem gemeinsamen Vaterlande, und welche dieses
zerfleischen, indem sie einander auf Tod und Leben bekäm-
pfen. Der Stat verfällt in wechselnde Schwankungen voller
Unsicherheit und Gefahr, und geht in dem Uebermasz der
Beweglichkeit zu Grunde. So war die Blüthezeit der athe-
nischen Demokratie zwar überaus glänzend, aber sehr kurz,
und ein langer Verfall, von dem sich der Stat nicht wieder
erholte, folgte ihr auf dem Fusze nach. 3
Eine charakteristische Eigenschaft jeder Demokratie ist
die Vorliebe für das Princip der Gleichheit. In Athen
wurde die politische Gleichheit der Bürger in ihrer Einseitig-
keit so consequent ausgebildet, wie in den neueren Demo-
3 Die Glanzperiode beginnt mit Klisthenes 510 v. Chr., welcher zu-
erst die reine Demokratie einführte, und endigt schon mit dem Tode
des Perikles 428, hat also nur etwa 82 Jahre gedauert.
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