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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Neunzehntes Cap. III. Die Aristokratie. Bemerkungen über die Aristokratie.
das Ganze voraussetzen, nach den Grundsätzen des Erbrechts
besetzt und zu Eigenthum einzelner Familien gemacht werden.
Aber sie hat Unrecht, den Zusammenhang zwischen der Ver-
gangenheit und Gegenwart, den das Erbrecht festhält, auf-
zulösen und in Zustände und Verhältnisse, welchen die fort-
gesetzte Stätigkeit der Ueberlieferung natürlich ist, welche
eben durch ihren gesicherten Fortbestand der Statsordnung
selbst als feste Säulen dienen, und welche auch grosze mo-
ralische Interessen und Kräfte fortpflanzen und in die Zu-
kunft hinüberleiten, eine lockere und häufigem Wechsel aus-
gesetzte Beweglichkeit einzuführen. Indem sie das thut, baut
sie statt auf Felsen auf Sand und verfehlt sich wider die
organische Natur sowohl der Nation als des States, deren
Leben nicht mit den einzelnen Generationen wechselt, son-
dern während Jahrhunderten sich durch eine Reihe von Ge-
nerationen fortsetzt. 6


6 In dem aristokratischen England wird diese Bedeutung des politi-
schen Erbrechts auch in unserer Zeit noch verstanden. Sehr schön
äuszert sich darüber Edm. Burke in seinen Betrachtungen über die
französische Revolution: "Sie werden bemerken, was die übereinstim-
mende Politik unserer Verfassung von der Magna Charta bis zur Erklä-
rung der Rechte gewesen ist, unsere Freiheit als eine fideicommissa-
rische Erbschaft
(an entailed inheritance) zu begehren und in An-
spruch zu nehmen, die uns von unsern Voreltern überliefert worden,
und die wir unsern Nachkommen zurücklassen sollen. Wir haben eine
erbliche Krone, eine erbliche Pairie und ein Haus der Gemeinen und
ein Volk, deren Privilegien, Gerechtsame und Freiheiten von einer langen
Ahnenreihe herstammen. Der Geist der Neuerung ist gemeiniglich das
Geschöpf der Selbstsucht und beschränkter Ansichten. Ein Volk,
welches nicht zurückblickt auf seine Vorfahren, wird auch nicht für seine
Nachkommen sorgen. Das Volk von England aber weisz sehr wohl, dasz die
Idee der Erblichkeit ein sicheres Princip der Erhaltung und ein
sicheres Princip der Ueberlieferung erzeugt, ohne irgend ein Princip
der Vervollkommnung auszuschlieszen. Es läszt den Erwerb
frei, aber es sichert das Erworbene
. --Unser politisches System
steht in Verbindung und Harmonie mit der gesammten Weltordnung und
mit den Bedingungen der Existenz eines fortdauernden Körpers, welcher
aus vergänglichen und wechselnden Theilen gebildet ist. Nach der An-

Neunzehntes Cap. III. Die Aristokratie. Bemerkungen über die Aristokratie.
das Ganze voraussetzen, nach den Grundsätzen des Erbrechts
besetzt und zu Eigenthum einzelner Familien gemacht werden.
Aber sie hat Unrecht, den Zusammenhang zwischen der Ver-
gangenheit und Gegenwart, den das Erbrecht festhält, auf-
zulösen und in Zustände und Verhältnisse, welchen die fort-
gesetzte Stätigkeit der Ueberlieferung natürlich ist, welche
eben durch ihren gesicherten Fortbestand der Statsordnung
selbst als feste Säulen dienen, und welche auch grosze mo-
ralische Interessen und Kräfte fortpflanzen und in die Zu-
kunft hinüberleiten, eine lockere und häufigem Wechsel aus-
gesetzte Beweglichkeit einzuführen. Indem sie das thut, baut
sie statt auf Felsen auf Sand und verfehlt sich wider die
organische Natur sowohl der Nation als des States, deren
Leben nicht mit den einzelnen Generationen wechselt, son-
dern während Jahrhunderten sich durch eine Reihe von Ge-
nerationen fortsetzt. 6


6 In dem aristokratischen England wird diese Bedeutung des politi-
schen Erbrechts auch in unserer Zeit noch verstanden. Sehr schön
äuszert sich darüber Edm. Burke in seinen Betrachtungen über die
französische Revolution: „Sie werden bemerken, was die übereinstim-
mende Politik unserer Verfassung von der Magna Charta bis zur Erklä-
rung der Rechte gewesen ist, unsere Freiheit als eine fideicommissa-
rische Erbschaft
(an entailed inheritance) zu begehren und in An-
spruch zu nehmen, die uns von unsern Voreltern überliefert worden,
und die wir unsern Nachkommen zurücklassen sollen. Wir haben eine
erbliche Krone, eine erbliche Pairie und ein Haus der Gemeinen und
ein Volk, deren Privilegien, Gerechtsame und Freiheiten von einer langen
Ahnenreihe herstammen. Der Geist der Neuerung ist gemeiniglich das
Geschöpf der Selbstsucht und beschränkter Ansichten. Ein Volk,
welches nicht zurückblickt auf seine Vorfahren, wird auch nicht für seine
Nachkommen sorgen. Das Volk von England aber weisz sehr wohl, dasz die
Idee der Erblichkeit ein sicheres Princip der Erhaltung und ein
sicheres Princip der Ueberlieferung erzeugt, ohne irgend ein Princip
der Vervollkommnung auszuschlieszen. Es läszt den Erwerb
frei, aber es sichert das Erworbene
. —Unser politisches System
steht in Verbindung und Harmonie mit der gesammten Weltordnung und
mit den Bedingungen der Existenz eines fortdauernden Körpers, welcher
aus vergänglichen und wechselnden Theilen gebildet ist. Nach der An-
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[523/0541] Neunzehntes Cap. III. Die Aristokratie. Bemerkungen über die Aristokratie. das Ganze voraussetzen, nach den Grundsätzen des Erbrechts besetzt und zu Eigenthum einzelner Familien gemacht werden. Aber sie hat Unrecht, den Zusammenhang zwischen der Ver- gangenheit und Gegenwart, den das Erbrecht festhält, auf- zulösen und in Zustände und Verhältnisse, welchen die fort- gesetzte Stätigkeit der Ueberlieferung natürlich ist, welche eben durch ihren gesicherten Fortbestand der Statsordnung selbst als feste Säulen dienen, und welche auch grosze mo- ralische Interessen und Kräfte fortpflanzen und in die Zu- kunft hinüberleiten, eine lockere und häufigem Wechsel aus- gesetzte Beweglichkeit einzuführen. Indem sie das thut, baut sie statt auf Felsen auf Sand und verfehlt sich wider die organische Natur sowohl der Nation als des States, deren Leben nicht mit den einzelnen Generationen wechselt, son- dern während Jahrhunderten sich durch eine Reihe von Ge- nerationen fortsetzt. 6 6 In dem aristokratischen England wird diese Bedeutung des politi- schen Erbrechts auch in unserer Zeit noch verstanden. Sehr schön äuszert sich darüber Edm. Burke in seinen Betrachtungen über die französische Revolution: „Sie werden bemerken, was die übereinstim- mende Politik unserer Verfassung von der Magna Charta bis zur Erklä- rung der Rechte gewesen ist, unsere Freiheit als eine fideicommissa- rische Erbschaft (an entailed inheritance) zu begehren und in An- spruch zu nehmen, die uns von unsern Voreltern überliefert worden, und die wir unsern Nachkommen zurücklassen sollen. Wir haben eine erbliche Krone, eine erbliche Pairie und ein Haus der Gemeinen und ein Volk, deren Privilegien, Gerechtsame und Freiheiten von einer langen Ahnenreihe herstammen. Der Geist der Neuerung ist gemeiniglich das Geschöpf der Selbstsucht und beschränkter Ansichten. Ein Volk, welches nicht zurückblickt auf seine Vorfahren, wird auch nicht für seine Nachkommen sorgen. Das Volk von England aber weisz sehr wohl, dasz die Idee der Erblichkeit ein sicheres Princip der Erhaltung und ein sicheres Princip der Ueberlieferung erzeugt, ohne irgend ein Princip der Vervollkommnung auszuschlieszen. Es läszt den Erwerb frei, aber es sichert das Erworbene. —Unser politisches System steht in Verbindung und Harmonie mit der gesammten Weltordnung und mit den Bedingungen der Existenz eines fortdauernden Körpers, welcher aus vergänglichen und wechselnden Theilen gebildet ist. Nach der An-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 523. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/541>, abgerufen am 18.05.2024.