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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.

1) Sie ist eine verfassungsmäszige Würde und Macht.
Der constitutionelle Fürst steht nicht auszer, noch über,
sondern in der Verfassung. Die Rücksicht auf die verfassungs-
mäszige Rechtsordnung, welche auch den Monarchen bedingt,
hat dieser Form den Namen gegeben. Ob die Verfassung in
Einer Urkunde dargestellt werde oder nicht, ist zwar nicht
gleichgültig, aber für den Begriff nicht wesentlich.

In England, dem Mutterlande der constitutionellen Mon-
archie, gibt es wohl einzelne Verfassungsgesetze und
urkundliche Erklärungen über die anerkannten Volksfreiheiten,
aber nicht eine systematische Beurkundung der ge-
sammten Statsordnung, wie die neuere Zeit sie liebt, und
vorzugsweise Constitution zu nennen pflegt. Jene sind je
nach den politischen Kämpfen der Zeit und den besondern
Anforderungen des in bestimmten Richtungen erregten poli-
tischen Lebens des englischen Volks im Lauf der Geschichte
allmählich entstanden. Diese Constitutionen werden gewöhn-
lich auf einmal und unter dem Einflusz einer allgemeinen
Statstheorie als ein zusammenhängendes und umfassendes Ge-
setzeswerk bearbeitet.

In beiden Formen ist die constitutionelle Monarchie mög-
lich. Aber sie setzt auf urkundliche Bestätigung, auf
Verbriefung der politischen Rechte, obwohl die Natur
dieser nicht von der Form der Bezeugung und Zusicherung
abhängt, einen entschiedenen Werth, ohne darum das unge-
schriebene Recht zu bestreiten. Es ist dieser Zug dem mo-
dernen Leben in der That gemäsz, dessen Rechtsbewusztsein
nicht mehr so unmittelbar mit der Gewohnheit verwachsen
ist, sondern um sich sicher zu fühlen und zur Klarheit zu
gelangen, der Fixirung durch die Schrift bedarf. 9


9 Allerdings gibt es auch "papierene Constitutionen," wie Fried-
rich Wilhelm
IV. in einer Thronrede sie genannt hat, welche, weil
sie ein bloszes theoretisches Machwerk ohne Wurzeln in der Nation sind,
leicht zerrissen werden; aber die schriftliche Beurkundung einer Ver-
Sechstes Buch. Die Statsformen.

1) Sie ist eine verfassungsmäszige Würde und Macht.
Der constitutionelle Fürst steht nicht auszer, noch über,
sondern in der Verfassung. Die Rücksicht auf die verfassungs-
mäszige Rechtsordnung, welche auch den Monarchen bedingt,
hat dieser Form den Namen gegeben. Ob die Verfassung in
Einer Urkunde dargestellt werde oder nicht, ist zwar nicht
gleichgültig, aber für den Begriff nicht wesentlich.

In England, dem Mutterlande der constitutionellen Mon-
archie, gibt es wohl einzelne Verfassungsgesetze und
urkundliche Erklärungen über die anerkannten Volksfreiheiten,
aber nicht eine systematische Beurkundung der ge-
sammten Statsordnung, wie die neuere Zeit sie liebt, und
vorzugsweise Constitution zu nennen pflegt. Jene sind je
nach den politischen Kämpfen der Zeit und den besondern
Anforderungen des in bestimmten Richtungen erregten poli-
tischen Lebens des englischen Volks im Lauf der Geschichte
allmählich entstanden. Diese Constitutionen werden gewöhn-
lich auf einmal und unter dem Einflusz einer allgemeinen
Statstheorie als ein zusammenhängendes und umfassendes Ge-
setzeswerk bearbeitet.

In beiden Formen ist die constitutionelle Monarchie mög-
lich. Aber sie setzt auf urkundliche Bestätigung, auf
Verbriefung der politischen Rechte, obwohl die Natur
dieser nicht von der Form der Bezeugung und Zusicherung
abhängt, einen entschiedenen Werth, ohne darum das unge-
schriebene Recht zu bestreiten. Es ist dieser Zug dem mo-
dernen Leben in der That gemäsz, dessen Rechtsbewusztsein
nicht mehr so unmittelbar mit der Gewohnheit verwachsen
ist, sondern um sich sicher zu fühlen und zur Klarheit zu
gelangen, der Fixirung durch die Schrift bedarf. 9


9 Allerdings gibt es auch „papierene Constitutionen,“ wie Fried-
rich Wilhelm
IV. in einer Thronrede sie genannt hat, welche, weil
sie ein bloszes theoretisches Machwerk ohne Wurzeln in der Nation sind,
leicht zerrissen werden; aber die schriftliche Beurkundung einer Ver-
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[500/0518] Sechstes Buch. Die Statsformen. 1) Sie ist eine verfassungsmäszige Würde und Macht. Der constitutionelle Fürst steht nicht auszer, noch über, sondern in der Verfassung. Die Rücksicht auf die verfassungs- mäszige Rechtsordnung, welche auch den Monarchen bedingt, hat dieser Form den Namen gegeben. Ob die Verfassung in Einer Urkunde dargestellt werde oder nicht, ist zwar nicht gleichgültig, aber für den Begriff nicht wesentlich. In England, dem Mutterlande der constitutionellen Mon- archie, gibt es wohl einzelne Verfassungsgesetze und urkundliche Erklärungen über die anerkannten Volksfreiheiten, aber nicht eine systematische Beurkundung der ge- sammten Statsordnung, wie die neuere Zeit sie liebt, und vorzugsweise Constitution zu nennen pflegt. Jene sind je nach den politischen Kämpfen der Zeit und den besondern Anforderungen des in bestimmten Richtungen erregten poli- tischen Lebens des englischen Volks im Lauf der Geschichte allmählich entstanden. Diese Constitutionen werden gewöhn- lich auf einmal und unter dem Einflusz einer allgemeinen Statstheorie als ein zusammenhängendes und umfassendes Ge- setzeswerk bearbeitet. In beiden Formen ist die constitutionelle Monarchie mög- lich. Aber sie setzt auf urkundliche Bestätigung, auf Verbriefung der politischen Rechte, obwohl die Natur dieser nicht von der Form der Bezeugung und Zusicherung abhängt, einen entschiedenen Werth, ohne darum das unge- schriebene Recht zu bestreiten. Es ist dieser Zug dem mo- dernen Leben in der That gemäsz, dessen Rechtsbewusztsein nicht mehr so unmittelbar mit der Gewohnheit verwachsen ist, sondern um sich sicher zu fühlen und zur Klarheit zu gelangen, der Fixirung durch die Schrift bedarf. 9 9 Allerdings gibt es auch „papierene Constitutionen,“ wie Fried- rich Wilhelm IV. in einer Thronrede sie genannt hat, welche, weil sie ein bloszes theoretisches Machwerk ohne Wurzeln in der Nation sind, leicht zerrissen werden; aber die schriftliche Beurkundung einer Ver-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/518>, abgerufen am 24.11.2024.