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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
moi." ("Der Stat bin ich.") Der König betrachtete sich nicht
mehr als das Oberhaupt des States, welches selber nur ein
-- wenn auch das oberste und mächtigste -- Glied des ge-
sammten Statskörpers ist, sondern er identificirte seine Person
und den Stat vollständig, so dasz es auszer ihm keine andern
berechtigten Statsglieder mehr gab. Es gab keine Statswohl-
fahrt auszer seiner persönlichen Wohlfahrt, kein Statsrecht
auszer seinem individuellen Recht. Er war Alles in Allem,
auszer ihm war Nichts.

Diese völlige Verwechslung des Königthums mit dem
State -- wohl zu unterscheiden von der Personification der
statlichen Majestät in dem Könige -- war um so bedenklicher,
als während des XVII. und XVIII. Jahrhunderts, als dieselbe
Mode geworden, zugleich die Theorie von der Statsallmacht
aufkam. Während des Mittelalters war der Stat durch eine
unendliche Menge fester und abgeschlossener Rechtskreise
zerklüftet und jeder durchgreifenden Macht beraubt worden.
Nun machte die Theorie den Sprung in das Gegentheil, und
liesz gar keine selbständige, der Willkür und der Einwirkung
des States entzogene Rechtssphäre mehr gelten. Selbst das
Privatrecht wurde als ein Product des States aufgefaszt, und
dem Belieben der Statsgewalt preisgegeben.

Die Stats- und Rechtswissenschaft jener Zeiten
hat an dem Schaden, den diese Theorien gestiftet, einen
groszen Antheil. Die einen billigten und unterstützten die
unnatürliche Anmaszung der absoluten Könige mit Schein-
gründen, die andern traten derselben nicht entgegen, wie die
Pflicht gebot. Aber nicht minder schwer haben sich die da-
maligen Theologen (bald jesuitische, bald hochkirchliche
oder orthodoxlutherische Hoftheologen) versündigt, welche die
christliche Idee der Göttlichkeit der obrigkeitlichen Gewalt
dahin entstellten, dasz sie in gewissem Sinne die Könige als
unmittelbare und vollkommene Repräsentanten und Inhaber
der göttlichen Weltregierung auf Erden, als irdische Götter

Sechstes Buch. Die Statsformen.
moi.“ („Der Stat bin ich.“) Der König betrachtete sich nicht
mehr als das Oberhaupt des States, welches selber nur ein
— wenn auch das oberste und mächtigste — Glied des ge-
sammten Statskörpers ist, sondern er identificirte seine Person
und den Stat vollständig, so dasz es auszer ihm keine andern
berechtigten Statsglieder mehr gab. Es gab keine Statswohl-
fahrt auszer seiner persönlichen Wohlfahrt, kein Statsrecht
auszer seinem individuellen Recht. Er war Alles in Allem,
auszer ihm war Nichts.

Diese völlige Verwechslung des Königthums mit dem
State — wohl zu unterscheiden von der Personification der
statlichen Majestät in dem Könige — war um so bedenklicher,
als während des XVII. und XVIII. Jahrhunderts, als dieselbe
Mode geworden, zugleich die Theorie von der Statsallmacht
aufkam. Während des Mittelalters war der Stat durch eine
unendliche Menge fester und abgeschlossener Rechtskreise
zerklüftet und jeder durchgreifenden Macht beraubt worden.
Nun machte die Theorie den Sprung in das Gegentheil, und
liesz gar keine selbständige, der Willkür und der Einwirkung
des States entzogene Rechtssphäre mehr gelten. Selbst das
Privatrecht wurde als ein Product des States aufgefaszt, und
dem Belieben der Statsgewalt preisgegeben.

Die Stats- und Rechtswissenschaft jener Zeiten
hat an dem Schaden, den diese Theorien gestiftet, einen
groszen Antheil. Die einen billigten und unterstützten die
unnatürliche Anmaszung der absoluten Könige mit Schein-
gründen, die andern traten derselben nicht entgegen, wie die
Pflicht gebot. Aber nicht minder schwer haben sich die da-
maligen Theologen (bald jesuitische, bald hochkirchliche
oder orthodoxlutherische Hoftheologen) versündigt, welche die
christliche Idee der Göttlichkeit der obrigkeitlichen Gewalt
dahin entstellten, dasz sie in gewissem Sinne die Könige als
unmittelbare und vollkommene Repräsentanten und Inhaber
der göttlichen Weltregierung auf Erden, als irdische Götter

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[444/0462] Sechstes Buch. Die Statsformen. moi.“ („Der Stat bin ich.“) Der König betrachtete sich nicht mehr als das Oberhaupt des States, welches selber nur ein — wenn auch das oberste und mächtigste — Glied des ge- sammten Statskörpers ist, sondern er identificirte seine Person und den Stat vollständig, so dasz es auszer ihm keine andern berechtigten Statsglieder mehr gab. Es gab keine Statswohl- fahrt auszer seiner persönlichen Wohlfahrt, kein Statsrecht auszer seinem individuellen Recht. Er war Alles in Allem, auszer ihm war Nichts. Diese völlige Verwechslung des Königthums mit dem State — wohl zu unterscheiden von der Personification der statlichen Majestät in dem Könige — war um so bedenklicher, als während des XVII. und XVIII. Jahrhunderts, als dieselbe Mode geworden, zugleich die Theorie von der Statsallmacht aufkam. Während des Mittelalters war der Stat durch eine unendliche Menge fester und abgeschlossener Rechtskreise zerklüftet und jeder durchgreifenden Macht beraubt worden. Nun machte die Theorie den Sprung in das Gegentheil, und liesz gar keine selbständige, der Willkür und der Einwirkung des States entzogene Rechtssphäre mehr gelten. Selbst das Privatrecht wurde als ein Product des States aufgefaszt, und dem Belieben der Statsgewalt preisgegeben. Die Stats- und Rechtswissenschaft jener Zeiten hat an dem Schaden, den diese Theorien gestiftet, einen groszen Antheil. Die einen billigten und unterstützten die unnatürliche Anmaszung der absoluten Könige mit Schein- gründen, die andern traten derselben nicht entgegen, wie die Pflicht gebot. Aber nicht minder schwer haben sich die da- maligen Theologen (bald jesuitische, bald hochkirchliche oder orthodoxlutherische Hoftheologen) versündigt, welche die christliche Idee der Göttlichkeit der obrigkeitlichen Gewalt dahin entstellten, dasz sie in gewissem Sinne die Könige als unmittelbare und vollkommene Repräsentanten und Inhaber der göttlichen Weltregierung auf Erden, als irdische Götter

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/462>, abgerufen am 03.05.2024.