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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc.
derselben zu entziehen, eine der schlimmen und ge-
hässigen Eigenschaften des Feudalismus.

6. Der Lehensstat kann vorzugsweise ein Rechtsstat ge-
nannt werden. Das Statsprincip der öffentlichen Wohlfahrt
ist verdunkelt, die Abgrenzung der mancherlei politischen
Rechte aber genau bestimmt; diese selbst sind ähnlich wie
Privatrechte dem Willen des Berechtigten und sogar dem ge-
wöhnlichen Rechtsverkehr des Kaufes, Tausches, der Ver-
gabung, Verehrung u. s. f. preisgegeben. Der Schutz dieser
Rechte wird groszentheils in Form des gerichtlichen Processes
gehandhabt, oder gar der erlaubten Selbsthülfe in den Fehden
überlassen. Auf der einen Seite eine starre festgegliederte
Rechtsordnung
, welche wohl den Individuen, nicht
aber der Gesammtheit, wohl den einzelnen Corporationen und
Stiftungen, aber nicht der Nation und ihren Kräften Freiheit
gewährt, auf der andern ein fortgesetzter innerer Krieg,
und eine immer wiederkehrende Anarchie, das sind
die beiden entgegengesetzten Erscheinungen, welche wie die
beiden Gesichter des Januskopfs mit dem mittelalterlichen
Lehensstate verwachsen sind.

II. Ständische beschränkte Monarchie.

Die Lehensmonarchie ging allmählich während des Mittel-
alters in die Form des ständisch beschränkten Fürsten-
thums
über, welches die mittelalterliche Vorstufe der reprä-
sentativen Monarchie unserer Tage geworden ist. Diese Stats-
form wurde ungefähr seit 1240 herrschend in den meisten
europäischen Staten und dauerte drei Jahrhunderte fort, bis
sie sich im XVI. Jahrhundert in die absolute Monarchie um-
wandelte.

Der König oder der Landesfürst leitet noch seine Gewalt
von der Verleihung ab des höheren Herrn, zu oberst Gottes
und er betrachtet dieselbe wie ein ihm und seiner Dynastie
zugehöriges Eigenthum. In dem Bereich der fürstlichen Macht
fühlt er sich als Herr und duldet keinen Widerspruch gegen

Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc.
derselben zu entziehen, eine der schlimmen und ge-
hässigen Eigenschaften des Feudalismus.

6. Der Lehensstat kann vorzugsweise ein Rechtsstat ge-
nannt werden. Das Statsprincip der öffentlichen Wohlfahrt
ist verdunkelt, die Abgrenzung der mancherlei politischen
Rechte aber genau bestimmt; diese selbst sind ähnlich wie
Privatrechte dem Willen des Berechtigten und sogar dem ge-
wöhnlichen Rechtsverkehr des Kaufes, Tausches, der Ver-
gabung, Verehrung u. s. f. preisgegeben. Der Schutz dieser
Rechte wird groszentheils in Form des gerichtlichen Processes
gehandhabt, oder gar der erlaubten Selbsthülfe in den Fehden
überlassen. Auf der einen Seite eine starre festgegliederte
Rechtsordnung
, welche wohl den Individuen, nicht
aber der Gesammtheit, wohl den einzelnen Corporationen und
Stiftungen, aber nicht der Nation und ihren Kräften Freiheit
gewährt, auf der andern ein fortgesetzter innerer Krieg,
und eine immer wiederkehrende Anarchie, das sind
die beiden entgegengesetzten Erscheinungen, welche wie die
beiden Gesichter des Januskopfs mit dem mittelalterlichen
Lehensstate verwachsen sind.

II. Ständische beschränkte Monarchie.

Die Lehensmonarchie ging allmählich während des Mittel-
alters in die Form des ständisch beschränkten Fürsten-
thums
über, welches die mittelalterliche Vorstufe der reprä-
sentativen Monarchie unserer Tage geworden ist. Diese Stats-
form wurde ungefähr seit 1240 herrschend in den meisten
europäischen Staten und dauerte drei Jahrhunderte fort, bis
sie sich im XVI. Jahrhundert in die absolute Monarchie um-
wandelte.

Der König oder der Landesfürst leitet noch seine Gewalt
von der Verleihung ab des höheren Herrn, zu oberst Gottes
und er betrachtet dieselbe wie ein ihm und seiner Dynastie
zugehöriges Eigenthum. In dem Bereich der fürstlichen Macht
fühlt er sich als Herr und duldet keinen Widerspruch gegen

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[437/0455] Zwölftes Capitel. II. Monarch. Statsformen. E. Die Lehensmonarchie etc. derselben zu entziehen, eine der schlimmen und ge- hässigen Eigenschaften des Feudalismus. 6. Der Lehensstat kann vorzugsweise ein Rechtsstat ge- nannt werden. Das Statsprincip der öffentlichen Wohlfahrt ist verdunkelt, die Abgrenzung der mancherlei politischen Rechte aber genau bestimmt; diese selbst sind ähnlich wie Privatrechte dem Willen des Berechtigten und sogar dem ge- wöhnlichen Rechtsverkehr des Kaufes, Tausches, der Ver- gabung, Verehrung u. s. f. preisgegeben. Der Schutz dieser Rechte wird groszentheils in Form des gerichtlichen Processes gehandhabt, oder gar der erlaubten Selbsthülfe in den Fehden überlassen. Auf der einen Seite eine starre festgegliederte Rechtsordnung, welche wohl den Individuen, nicht aber der Gesammtheit, wohl den einzelnen Corporationen und Stiftungen, aber nicht der Nation und ihren Kräften Freiheit gewährt, auf der andern ein fortgesetzter innerer Krieg, und eine immer wiederkehrende Anarchie, das sind die beiden entgegengesetzten Erscheinungen, welche wie die beiden Gesichter des Januskopfs mit dem mittelalterlichen Lehensstate verwachsen sind. II. Ständische beschränkte Monarchie. Die Lehensmonarchie ging allmählich während des Mittel- alters in die Form des ständisch beschränkten Fürsten- thums über, welches die mittelalterliche Vorstufe der reprä- sentativen Monarchie unserer Tage geworden ist. Diese Stats- form wurde ungefähr seit 1240 herrschend in den meisten europäischen Staten und dauerte drei Jahrhunderte fort, bis sie sich im XVI. Jahrhundert in die absolute Monarchie um- wandelte. Der König oder der Landesfürst leitet noch seine Gewalt von der Verleihung ab des höheren Herrn, zu oberst Gottes und er betrachtet dieselbe wie ein ihm und seiner Dynastie zugehöriges Eigenthum. In dem Bereich der fürstlichen Macht fühlt er sich als Herr und duldet keinen Widerspruch gegen

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/455>, abgerufen am 23.11.2024.