der Volksgemeinschaft. Sie leitet ihn her aus der Natur und dem Bedürfnisse der Nation, und beschränkt ihn auf die Nation.
Die philosophische Erkenntnisz aber kann sich mit dieser Antwort nicht so leicht zufrieden geben. Indem sie den tiefern Grund der Staten aufsucht, findet sie in der menschlichen Natur die Anlage und das Bedürfnisz zum Stat. Aristoteles schon hat die fruchtbare Wahrheit ausgesprochen: "Der Mensch ist ein von Natur statliches Wesen" (phusei politikon zoon). Nicht die nationale Eigenthümlichkeit macht ihn zum State fähig und des States bedürftig, sondern die gemeinsame menschliche Natur. Indem wir ferner den Or- ganismus der verschiedenen Staten untersuchen, machen wir die Entdeckung, dasz die wesentlichen Organe sich bei sehr verschiedenen Völkern in derselben Weise wieder finden. Ein gemeinsamer, menschlicher Charakter ist überall zu erkennen, dem gegenüber die besonderen nationalen Formen nur wie Variationen erscheinen über dasselbe Thema. Der Begriff des Volkes selbst endlich ist kein für sich bestehender abgeschlos- sener, er weist mit innerer Nothwendigkeit auf die höhere Einheit der Menschheit hin, deren Glieder die Völker sind. Wie könnte sich daher auf das Volk der Stat begründen lassen, ohne Rücksicht auf die höhere Gesammtheit, der das Volk untergeordnet ist? Und wenn die Menschheit in Wahrheit ein Ganzes ist, wenn sie von einem gemeinsamen Geiste be- seelt ist, wie sollte sie nicht nach Verleiblichung ihres eigenen Wesens streben, d. h. zum State zu werden suchen?
Die national beschränkten Staten haben daher nur eine relative Wahrheit und Geltung. Der Denker kann in ihnen noch nicht die Erfüllung der höchsten Statsidee erkennen. Ihm ist der Stat ein menschlicher Organismus, eine menschliche Person. Ist er aber das, so musz der menschliche Geist, der in ihm lebt, auch einen menschlichen Körper haben, denn Geist und Körper gehören zusammen und bilden vereint die
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
der Volksgemeinschaft. Sie leitet ihn her aus der Natur und dem Bedürfnisse der Nation, und beschränkt ihn auf die Nation.
Die philosophische Erkenntnisz aber kann sich mit dieser Antwort nicht so leicht zufrieden geben. Indem sie den tiefern Grund der Staten aufsucht, findet sie in der menschlichen Natur die Anlage und das Bedürfnisz zum Stat. Aristoteles schon hat die fruchtbare Wahrheit ausgesprochen: „Der Mensch ist ein von Natur statliches Wesen“ (φύσει πολιτιϰὸν ζῶον). Nicht die nationale Eigenthümlichkeit macht ihn zum State fähig und des States bedürftig, sondern die gemeinsame menschliche Natur. Indem wir ferner den Or- ganismus der verschiedenen Staten untersuchen, machen wir die Entdeckung, dasz die wesentlichen Organe sich bei sehr verschiedenen Völkern in derselben Weise wieder finden. Ein gemeinsamer, menschlicher Charakter ist überall zu erkennen, dem gegenüber die besonderen nationalen Formen nur wie Variationen erscheinen über dasselbe Thema. Der Begriff des Volkes selbst endlich ist kein für sich bestehender abgeschlos- sener, er weist mit innerer Nothwendigkeit auf die höhere Einheit der Menschheit hin, deren Glieder die Völker sind. Wie könnte sich daher auf das Volk der Stat begründen lassen, ohne Rücksicht auf die höhere Gesammtheit, der das Volk untergeordnet ist? Und wenn die Menschheit in Wahrheit ein Ganzes ist, wenn sie von einem gemeinsamen Geiste be- seelt ist, wie sollte sie nicht nach Verleiblichung ihres eigenen Wesens streben, d. h. zum State zu werden suchen?
Die national beschränkten Staten haben daher nur eine relative Wahrheit und Geltung. Der Denker kann in ihnen noch nicht die Erfüllung der höchsten Statsidee erkennen. Ihm ist der Stat ein menschlicher Organismus, eine menschliche Person. Ist er aber das, so musz der menschliche Geist, der in ihm lebt, auch einen menschlichen Körper haben, denn Geist und Körper gehören zusammen und bilden vereint die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0044"n="26"/><fwplace="top"type="header">Erstes Buch. Der Statsbegriff.</fw><lb/>
der <hirendition="#g">Volksgemeinschaft</hi>. Sie leitet ihn her aus der Natur<lb/>
und dem Bedürfnisse der Nation, und beschränkt ihn auf die<lb/>
Nation.</p><lb/><p>Die philosophische Erkenntnisz aber kann sich mit dieser<lb/>
Antwort nicht so leicht zufrieden geben. Indem sie den tiefern<lb/>
Grund der Staten aufsucht, findet sie in der <hirendition="#g">menschlichen</hi><lb/>
Natur die Anlage und das Bedürfnisz zum Stat. <hirendition="#g">Aristoteles</hi><lb/>
schon hat die fruchtbare Wahrheit ausgesprochen: „<hirendition="#g">Der<lb/>
Mensch ist ein von Natur statliches Wesen</hi>“ (φύσει<lb/>πολιτιϰὸνζῶον). Nicht die nationale Eigenthümlichkeit macht<lb/>
ihn zum State fähig und des States bedürftig, sondern die<lb/>
gemeinsame menschliche Natur. Indem wir ferner den Or-<lb/>
ganismus der verschiedenen Staten untersuchen, machen wir<lb/>
die Entdeckung, dasz die wesentlichen Organe sich bei sehr<lb/>
verschiedenen Völkern in derselben Weise wieder finden. Ein<lb/>
gemeinsamer, menschlicher Charakter ist überall zu erkennen,<lb/>
dem gegenüber die besonderen nationalen Formen nur wie<lb/>
Variationen erscheinen über dasselbe Thema. Der Begriff des<lb/>
Volkes selbst endlich ist kein für sich bestehender abgeschlos-<lb/>
sener, er weist mit innerer Nothwendigkeit auf die höhere<lb/>
Einheit der Menschheit hin, deren Glieder die Völker sind.<lb/>
Wie könnte sich daher auf das Volk der Stat begründen lassen,<lb/>
ohne Rücksicht auf die höhere Gesammtheit, der das Volk<lb/>
untergeordnet ist? Und wenn die Menschheit in Wahrheit<lb/>
ein Ganzes ist, wenn sie von einem gemeinsamen Geiste be-<lb/>
seelt ist, wie sollte sie nicht nach Verleiblichung ihres eigenen<lb/>
Wesens streben, d. h. zum State zu werden suchen?</p><lb/><p>Die national beschränkten Staten haben daher nur eine<lb/>
relative Wahrheit und Geltung. Der Denker kann in ihnen<lb/>
noch nicht die Erfüllung der höchsten Statsidee erkennen. Ihm<lb/>
ist der Stat ein menschlicher Organismus, eine menschliche<lb/>
Person. Ist er aber das, so musz der menschliche Geist, der<lb/>
in ihm lebt, auch einen menschlichen Körper haben, denn<lb/>
Geist und Körper gehören zusammen und bilden vereint die<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[26/0044]
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
der Volksgemeinschaft. Sie leitet ihn her aus der Natur
und dem Bedürfnisse der Nation, und beschränkt ihn auf die
Nation.
Die philosophische Erkenntnisz aber kann sich mit dieser
Antwort nicht so leicht zufrieden geben. Indem sie den tiefern
Grund der Staten aufsucht, findet sie in der menschlichen
Natur die Anlage und das Bedürfnisz zum Stat. Aristoteles
schon hat die fruchtbare Wahrheit ausgesprochen: „Der
Mensch ist ein von Natur statliches Wesen“ (φύσει
πολιτιϰὸν ζῶον). Nicht die nationale Eigenthümlichkeit macht
ihn zum State fähig und des States bedürftig, sondern die
gemeinsame menschliche Natur. Indem wir ferner den Or-
ganismus der verschiedenen Staten untersuchen, machen wir
die Entdeckung, dasz die wesentlichen Organe sich bei sehr
verschiedenen Völkern in derselben Weise wieder finden. Ein
gemeinsamer, menschlicher Charakter ist überall zu erkennen,
dem gegenüber die besonderen nationalen Formen nur wie
Variationen erscheinen über dasselbe Thema. Der Begriff des
Volkes selbst endlich ist kein für sich bestehender abgeschlos-
sener, er weist mit innerer Nothwendigkeit auf die höhere
Einheit der Menschheit hin, deren Glieder die Völker sind.
Wie könnte sich daher auf das Volk der Stat begründen lassen,
ohne Rücksicht auf die höhere Gesammtheit, der das Volk
untergeordnet ist? Und wenn die Menschheit in Wahrheit
ein Ganzes ist, wenn sie von einem gemeinsamen Geiste be-
seelt ist, wie sollte sie nicht nach Verleiblichung ihres eigenen
Wesens streben, d. h. zum State zu werden suchen?
Die national beschränkten Staten haben daher nur eine
relative Wahrheit und Geltung. Der Denker kann in ihnen
noch nicht die Erfüllung der höchsten Statsidee erkennen. Ihm
ist der Stat ein menschlicher Organismus, eine menschliche
Person. Ist er aber das, so musz der menschliche Geist, der
in ihm lebt, auch einen menschlichen Körper haben, denn
Geist und Körper gehören zusammen und bilden vereint die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/44>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.