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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
anderes übrig, als durch freiwilligen Tod den göttlichen Zorn
zu sühnen. 2

In gebrochener Form sehen wir diesen Priesterstat in
Aegypten. Ursprünglich herrschten auch da nach der Volks-
sage während vieler Jahrhunderte die Götter selbst. Später
jedoch regierten menschliche Könige, aber als Göttersöhne und
selber wie Götter verehrt und durch das heilige Gesetz, eine
strenge Etikette, und den Einflusz der obersten Priesterkaste
beschränkt. Die göttlichen Vorschriften waren so genau im
einzelnen bestimmt, dasz dem Könige nicht einmal die Aus-
wahl der Speisen, die er essen wollte, freigegeben, sondern
auch seine frugalen Mahlzeiten ein- für allemal festgesetzt
waren. 3 Bei seinem Leben freilich wagten die Priester nicht
mehr im Namen der Götter Gericht über ihn zu halten, aber
wenn er starb, so wurde ein groszes und öffentliches Todten-
gericht über ihn von den Priestern angeordnet. Die Ehre
seines Namens bei der Nachwelt und die Aufnahme der abge-
schiedenen Seele in der Unterwelt und seine Wiedergeburt
wurde durch ihr Urtheil bestimmt. Unter einem Volke,
welches an die Fortdauer der Seele nach dem irdischen Tode
glaubte, mit äuszerster Sorgfalt sogar den Leichnam vor der
Verwesung zu retten suchte und seinen Todten reich ge-
schmückte und an alle Erfordernisse des Lebens erinnernde
Wohnungen erbaute, hingen von diesem ernsten Todtengericht
die Hoffnungen und Befürchtungen auch der Lebenden ab, und
es war dasselbe daher in der Hand der Priester eine furcht-
bare Macht.

Verwandt und groszentheils ideokratisch war auch der
altindische Stat. Der König steht nach der Ordnung der
Kasten unter den Brahmanen; der Brahmane verschmäht es,
ihm seine Tochter zur Frau zu geben, sie würde durch die

2 Diodorus Sic. Hist. III. 5. 6. Vgl. Leo's
Weltgesch. I. S. 79.
3 Diodorus Sic. Hist. I. 71, 72. Vgl. Duncker Gesch. d.
Alter-
thums Bd. I.

Sechstes Buch. Die Statsformen.
anderes übrig, als durch freiwilligen Tod den göttlichen Zorn
zu sühnen. 2

In gebrochener Form sehen wir diesen Priesterstat in
Aegypten. Ursprünglich herrschten auch da nach der Volks-
sage während vieler Jahrhunderte die Götter selbst. Später
jedoch regierten menschliche Könige, aber als Göttersöhne und
selber wie Götter verehrt und durch das heilige Gesetz, eine
strenge Etikette, und den Einflusz der obersten Priesterkaste
beschränkt. Die göttlichen Vorschriften waren so genau im
einzelnen bestimmt, dasz dem Könige nicht einmal die Aus-
wahl der Speisen, die er essen wollte, freigegeben, sondern
auch seine frugalen Mahlzeiten ein- für allemal festgesetzt
waren. 3 Bei seinem Leben freilich wagten die Priester nicht
mehr im Namen der Götter Gericht über ihn zu halten, aber
wenn er starb, so wurde ein groszes und öffentliches Todten-
gericht über ihn von den Priestern angeordnet. Die Ehre
seines Namens bei der Nachwelt und die Aufnahme der abge-
schiedenen Seele in der Unterwelt und seine Wiedergeburt
wurde durch ihr Urtheil bestimmt. Unter einem Volke,
welches an die Fortdauer der Seele nach dem irdischen Tode
glaubte, mit äuszerster Sorgfalt sogar den Leichnam vor der
Verwesung zu retten suchte und seinen Todten reich ge-
schmückte und an alle Erfordernisse des Lebens erinnernde
Wohnungen erbaute, hingen von diesem ernsten Todtengericht
die Hoffnungen und Befürchtungen auch der Lebenden ab, und
es war dasselbe daher in der Hand der Priester eine furcht-
bare Macht.

Verwandt und groszentheils ideokratisch war auch der
altindische Stat. Der König steht nach der Ordnung der
Kasten unter den Brahmanen; der Brahmane verschmäht es,
ihm seine Tochter zur Frau zu geben, sie würde durch die

2 Diodorus Sic. Hist. III. 5. 6. Vgl. Leo's
Weltgesch. I. S. 79.
3 Diodorus Sic. Hist. I. 71, 72. Vgl. Duncker Gesch. d.
Alter-
thums Bd. I.
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[388/0406] Sechstes Buch. Die Statsformen. anderes übrig, als durch freiwilligen Tod den göttlichen Zorn zu sühnen. 2 In gebrochener Form sehen wir diesen Priesterstat in Aegypten. Ursprünglich herrschten auch da nach der Volks- sage während vieler Jahrhunderte die Götter selbst. Später jedoch regierten menschliche Könige, aber als Göttersöhne und selber wie Götter verehrt und durch das heilige Gesetz, eine strenge Etikette, und den Einflusz der obersten Priesterkaste beschränkt. Die göttlichen Vorschriften waren so genau im einzelnen bestimmt, dasz dem Könige nicht einmal die Aus- wahl der Speisen, die er essen wollte, freigegeben, sondern auch seine frugalen Mahlzeiten ein- für allemal festgesetzt waren. 3 Bei seinem Leben freilich wagten die Priester nicht mehr im Namen der Götter Gericht über ihn zu halten, aber wenn er starb, so wurde ein groszes und öffentliches Todten- gericht über ihn von den Priestern angeordnet. Die Ehre seines Namens bei der Nachwelt und die Aufnahme der abge- schiedenen Seele in der Unterwelt und seine Wiedergeburt wurde durch ihr Urtheil bestimmt. Unter einem Volke, welches an die Fortdauer der Seele nach dem irdischen Tode glaubte, mit äuszerster Sorgfalt sogar den Leichnam vor der Verwesung zu retten suchte und seinen Todten reich ge- schmückte und an alle Erfordernisse des Lebens erinnernde Wohnungen erbaute, hingen von diesem ernsten Todtengericht die Hoffnungen und Befürchtungen auch der Lebenden ab, und es war dasselbe daher in der Hand der Priester eine furcht- bare Macht. Verwandt und groszentheils ideokratisch war auch der altindische Stat. Der König steht nach der Ordnung der Kasten unter den Brahmanen; der Brahmane verschmäht es, ihm seine Tochter zur Frau zu geben, sie würde durch die 2 Diodorus Sic. Hist. III. 5. 6. Vgl. Leo's Weltgesch. I. S. 79. 3 Diodorus Sic. Hist. I. 71, 72. Vgl. Duncker Gesch. d. Alter- thums Bd. I.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/406>, abgerufen am 06.05.2024.