Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Fünftes Buch. Der Statszweck.
aufgabe betrachten kann und Nichts inbegriffen, was auszer-
halb des Statsbereiches liegt. Diese Zweckbestimmung nimmt
überdem Rücksicht auf die besondern Individualitäten und
Lebensbedürfnisse der verschiedenen Völker. Sie hält die
Einheit des Statszwecks fest und sichert zugleich die Mannich-
faltigkeit seiner Ausbildung.

Wenn es überhaupt die Lebensaufgabe einer jeden Per-
son ist, ihre Anlage zu entwickeln und ihr Wesen zu offen-
baren, so ist es auch die Bestimmung der Statsperson, die
in dem Volke ruhenden Kräfte zu entfalten, und seine An-
lage in der Welt zu offenbaren. Darin liegt die zwiefache
Pflicht des States, erstens für die Erhaltung der Volks-
kräfte zu sorgen, zweitens ihre Ausbildung zu fördern.
Die Erhaltung bewahrt die Errungenschaften der Vergan-
genheit
, die Ausbildung bedeutet den Fortschritt der Zu-
kunft
.

5. Innerhalb dieses Gesammtzwecks treten einige beson-
dere Richtungen
hervor, deren einseitige Verfolgung oft
der eigenthümlichen Natur eines bestimmten Volkes zusagt,
aber nicht ohne Gefahr für den Stat im Ganzen ist. Wir er-
wähnen:

1) die Machtentfaltung des Stats. Der Stat bedarf
der Macht, um seine Selbständigkeit zu behaupten und um
seine Anordnungen wirksam zu machen. Nur als ein macht-
volles Wesen kann der Stat bestehen und leben. Aber dem
Grade und der Art der Macht nach sind doch die Völker und
Staten sehr verschieden.

Wir nennen a) Weltmächte solche Staten, deren Be-
deutung und Wirksamkeit weit über ihr Statsgebiet hinaus-
reicht, welche an der groszen Politik zweier Welttheile oder
der gesammten Welt einen mitbestimmenden Antheil haben,
denen daher auch vorzüglich die Sorge für den Weltfrie-
den
und die Weltordnung (das Völkerrecht) zukommt.

b) Groszmächte. Nicht jede Groszmacht ist eine

Fünftes Buch. Der Statszweck.
aufgabe betrachten kann und Nichts inbegriffen, was auszer-
halb des Statsbereiches liegt. Diese Zweckbestimmung nimmt
überdem Rücksicht auf die besondern Individualitäten und
Lebensbedürfnisse der verschiedenen Völker. Sie hält die
Einheit des Statszwecks fest und sichert zugleich die Mannich-
faltigkeit seiner Ausbildung.

Wenn es überhaupt die Lebensaufgabe einer jeden Per-
son ist, ihre Anlage zu entwickeln und ihr Wesen zu offen-
baren, so ist es auch die Bestimmung der Statsperson, die
in dem Volke ruhenden Kräfte zu entfalten, und seine An-
lage in der Welt zu offenbaren. Darin liegt die zwiefache
Pflicht des States, erstens für die Erhaltung der Volks-
kräfte zu sorgen, zweitens ihre Ausbildung zu fördern.
Die Erhaltung bewahrt die Errungenschaften der Vergan-
genheit
, die Ausbildung bedeutet den Fortschritt der Zu-
kunft
.

5. Innerhalb dieses Gesammtzwecks treten einige beson-
dere Richtungen
hervor, deren einseitige Verfolgung oft
der eigenthümlichen Natur eines bestimmten Volkes zusagt,
aber nicht ohne Gefahr für den Stat im Ganzen ist. Wir er-
wähnen:

1) die Machtentfaltung des Stats. Der Stat bedarf
der Macht, um seine Selbständigkeit zu behaupten und um
seine Anordnungen wirksam zu machen. Nur als ein macht-
volles Wesen kann der Stat bestehen und leben. Aber dem
Grade und der Art der Macht nach sind doch die Völker und
Staten sehr verschieden.

Wir nennen a) Weltmächte solche Staten, deren Be-
deutung und Wirksamkeit weit über ihr Statsgebiet hinaus-
reicht, welche an der groszen Politik zweier Welttheile oder
der gesammten Welt einen mitbestimmenden Antheil haben,
denen daher auch vorzüglich die Sorge für den Weltfrie-
den
und die Weltordnung (das Völkerrecht) zukommt.

b) Groszmächte. Nicht jede Groszmacht ist eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0380" n="362"/><fw place="top" type="header">Fünftes Buch. Der Statszweck.</fw><lb/>
aufgabe betrachten kann und Nichts inbegriffen, was auszer-<lb/>
halb des Statsbereiches liegt. Diese Zweckbestimmung nimmt<lb/>
überdem Rücksicht auf die besondern Individualitäten und<lb/>
Lebensbedürfnisse der verschiedenen Völker. Sie hält die<lb/>
Einheit des Statszwecks fest und sichert zugleich die Mannich-<lb/>
faltigkeit seiner Ausbildung.</p><lb/>
          <p>Wenn es überhaupt die Lebensaufgabe einer jeden Per-<lb/>
son ist, ihre Anlage zu entwickeln und ihr Wesen zu offen-<lb/>
baren, so ist es auch die Bestimmung der Statsperson, die<lb/>
in dem Volke ruhenden Kräfte zu entfalten, und seine An-<lb/>
lage in der Welt zu offenbaren. Darin liegt die zwiefache<lb/>
Pflicht des States, erstens für die <hi rendition="#g">Erhaltung</hi> der Volks-<lb/>
kräfte zu sorgen, zweitens ihre <hi rendition="#g">Ausbildung</hi> zu fördern.<lb/>
Die Erhaltung bewahrt die Errungenschaften der <hi rendition="#g">Vergan-<lb/>
genheit</hi>, die Ausbildung bedeutet den Fortschritt der <hi rendition="#g">Zu-<lb/>
kunft</hi>.</p><lb/>
          <p>5. Innerhalb dieses Gesammtzwecks treten einige <hi rendition="#g">beson-<lb/>
dere Richtungen</hi> hervor, deren einseitige Verfolgung oft<lb/>
der eigenthümlichen Natur eines bestimmten Volkes zusagt,<lb/>
aber nicht ohne Gefahr für den Stat im Ganzen ist. Wir er-<lb/>
wähnen:</p><lb/>
          <p>1) die <hi rendition="#g">Machtentfaltung</hi> des Stats. Der Stat bedarf<lb/>
der Macht, um seine Selbständigkeit zu behaupten und um<lb/>
seine Anordnungen wirksam zu machen. Nur als ein macht-<lb/>
volles Wesen kann der Stat bestehen und leben. Aber dem<lb/>
Grade und der Art der Macht nach sind doch die Völker und<lb/>
Staten sehr verschieden.</p><lb/>
          <p>Wir nennen a) <hi rendition="#g">Weltmächte</hi> solche Staten, deren Be-<lb/>
deutung und Wirksamkeit weit über ihr Statsgebiet hinaus-<lb/>
reicht, welche an der groszen Politik zweier Welttheile oder<lb/>
der gesammten Welt einen mitbestimmenden Antheil haben,<lb/>
denen daher auch vorzüglich die Sorge für den <hi rendition="#g">Weltfrie-<lb/>
den</hi> und die <hi rendition="#g">Weltordnung</hi> (das <hi rendition="#g">Völkerrecht</hi>) zukommt.</p><lb/>
          <p>b) <hi rendition="#g">Groszmächte</hi>. Nicht jede Groszmacht ist eine<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[362/0380] Fünftes Buch. Der Statszweck. aufgabe betrachten kann und Nichts inbegriffen, was auszer- halb des Statsbereiches liegt. Diese Zweckbestimmung nimmt überdem Rücksicht auf die besondern Individualitäten und Lebensbedürfnisse der verschiedenen Völker. Sie hält die Einheit des Statszwecks fest und sichert zugleich die Mannich- faltigkeit seiner Ausbildung. Wenn es überhaupt die Lebensaufgabe einer jeden Per- son ist, ihre Anlage zu entwickeln und ihr Wesen zu offen- baren, so ist es auch die Bestimmung der Statsperson, die in dem Volke ruhenden Kräfte zu entfalten, und seine An- lage in der Welt zu offenbaren. Darin liegt die zwiefache Pflicht des States, erstens für die Erhaltung der Volks- kräfte zu sorgen, zweitens ihre Ausbildung zu fördern. Die Erhaltung bewahrt die Errungenschaften der Vergan- genheit, die Ausbildung bedeutet den Fortschritt der Zu- kunft. 5. Innerhalb dieses Gesammtzwecks treten einige beson- dere Richtungen hervor, deren einseitige Verfolgung oft der eigenthümlichen Natur eines bestimmten Volkes zusagt, aber nicht ohne Gefahr für den Stat im Ganzen ist. Wir er- wähnen: 1) die Machtentfaltung des Stats. Der Stat bedarf der Macht, um seine Selbständigkeit zu behaupten und um seine Anordnungen wirksam zu machen. Nur als ein macht- volles Wesen kann der Stat bestehen und leben. Aber dem Grade und der Art der Macht nach sind doch die Völker und Staten sehr verschieden. Wir nennen a) Weltmächte solche Staten, deren Be- deutung und Wirksamkeit weit über ihr Statsgebiet hinaus- reicht, welche an der groszen Politik zweier Welttheile oder der gesammten Welt einen mitbestimmenden Antheil haben, denen daher auch vorzüglich die Sorge für den Weltfrie- den und die Weltordnung (das Völkerrecht) zukommt. b) Groszmächte. Nicht jede Groszmacht ist eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/380
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/380>, abgerufen am 04.05.2024.