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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Fünftes Buch. Der Statszweck.
des States auf dem Dienste Gottes. Es ist Gottes Gebot für
das Gemeinleben -- Gerechtigkeit, Zucht und Sitte -- das
er handhaben, es ist Gottes Herrschaft, die er aufrichten
soll." Im Mittelalter war diese Vorstellung sowohl unter den
Christen als unter den Muhammedanern allgemein geglaubt.
Die moderne Welt bestreitet nicht die religiöse Bedeutung
dieses Gedankens. Sie begreift es, dasz dem frommen Ge-
müthe die ganze Welt verklärt wird durch das Licht des gött-
lichen Wesens und Waltens. Aber sie verwirft entschieden
die unrichtige und verderbliche Anwendung der Gottesherr-
schaft auf die menschliche Statsleitung.

Die theokratisirende Gleichung: "Gott regiert über die
Welt, wie der Fürst über das Volk" ist augenscheinlich falsch,
denn die Regierung Gottes über die Menschheit (die Welt)
ist die Regierung des absoluten Wesens über relative Wesen,
des Schöpfers über die Geschöpfe, die wir weder in ihren Ur-
sachen zu ergründen, noch in ihren Mitteln und in ihrem
Ziele mit Sicherheit zu bestimmen vermögen. Die Regierung
des Fürsten aber über das Volk ist die Regierung eines Men-
schen über andere Menschen, d. h. über gleichartige Wesen,
deren Leben ebenso ein abgeleitetes und deren Eigenschaften
eben so beschränkt sind, wie die des Fürsten auch, die
menschlich zu beurtheilen auch die Regierten wohl im
Stande sind.

Die Gleichstellung des Fürsten mit Gott ist daher in
jeder Hinsicht unwahr und weil sie zur Ueberschätzung und
zum Uebermuthe verleitet, verderblich. Der Statszweck musz
menschlich erkennbar, menschlich bestimmbar und wenigstens
annähernd menschlich erreichbar sein.

3. Durchaus verwerflich ist es, den Statszweck auszer-
halb
des Volkes und Landes zu setzen, welche den Stat
bilden, so dasz der ganze Stat nur ein Mittel würde für
auszerstatliche und fremde Zwecke.

Wenn die klerikale Partei die Nothwendigkeit eines

Fünftes Buch. Der Statszweck.
des States auf dem Dienste Gottes. Es ist Gottes Gebot für
das Gemeinleben — Gerechtigkeit, Zucht und Sitte — das
er handhaben, es ist Gottes Herrschaft, die er aufrichten
soll.“ Im Mittelalter war diese Vorstellung sowohl unter den
Christen als unter den Muhammedanern allgemein geglaubt.
Die moderne Welt bestreitet nicht die religiöse Bedeutung
dieses Gedankens. Sie begreift es, dasz dem frommen Ge-
müthe die ganze Welt verklärt wird durch das Licht des gött-
lichen Wesens und Waltens. Aber sie verwirft entschieden
die unrichtige und verderbliche Anwendung der Gottesherr-
schaft auf die menschliche Statsleitung.

Die theokratisirende Gleichung: „Gott regiert über die
Welt, wie der Fürst über das Volk“ ist augenscheinlich falsch,
denn die Regierung Gottes über die Menschheit (die Welt)
ist die Regierung des absoluten Wesens über relative Wesen,
des Schöpfers über die Geschöpfe, die wir weder in ihren Ur-
sachen zu ergründen, noch in ihren Mitteln und in ihrem
Ziele mit Sicherheit zu bestimmen vermögen. Die Regierung
des Fürsten aber über das Volk ist die Regierung eines Men-
schen über andere Menschen, d. h. über gleichartige Wesen,
deren Leben ebenso ein abgeleitetes und deren Eigenschaften
eben so beschränkt sind, wie die des Fürsten auch, die
menschlich zu beurtheilen auch die Regierten wohl im
Stande sind.

Die Gleichstellung des Fürsten mit Gott ist daher in
jeder Hinsicht unwahr und weil sie zur Ueberschätzung und
zum Uebermuthe verleitet, verderblich. Der Statszweck musz
menschlich erkennbar, menschlich bestimmbar und wenigstens
annähernd menschlich erreichbar sein.

3. Durchaus verwerflich ist es, den Statszweck auszer-
halb
des Volkes und Landes zu setzen, welche den Stat
bilden, so dasz der ganze Stat nur ein Mittel würde für
auszerstatliche und fremde Zwecke.

Wenn die klerikale Partei die Nothwendigkeit eines

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[352/0370] Fünftes Buch. Der Statszweck. des States auf dem Dienste Gottes. Es ist Gottes Gebot für das Gemeinleben — Gerechtigkeit, Zucht und Sitte — das er handhaben, es ist Gottes Herrschaft, die er aufrichten soll.“ Im Mittelalter war diese Vorstellung sowohl unter den Christen als unter den Muhammedanern allgemein geglaubt. Die moderne Welt bestreitet nicht die religiöse Bedeutung dieses Gedankens. Sie begreift es, dasz dem frommen Ge- müthe die ganze Welt verklärt wird durch das Licht des gött- lichen Wesens und Waltens. Aber sie verwirft entschieden die unrichtige und verderbliche Anwendung der Gottesherr- schaft auf die menschliche Statsleitung. Die theokratisirende Gleichung: „Gott regiert über die Welt, wie der Fürst über das Volk“ ist augenscheinlich falsch, denn die Regierung Gottes über die Menschheit (die Welt) ist die Regierung des absoluten Wesens über relative Wesen, des Schöpfers über die Geschöpfe, die wir weder in ihren Ur- sachen zu ergründen, noch in ihren Mitteln und in ihrem Ziele mit Sicherheit zu bestimmen vermögen. Die Regierung des Fürsten aber über das Volk ist die Regierung eines Men- schen über andere Menschen, d. h. über gleichartige Wesen, deren Leben ebenso ein abgeleitetes und deren Eigenschaften eben so beschränkt sind, wie die des Fürsten auch, die menschlich zu beurtheilen auch die Regierten wohl im Stande sind. Die Gleichstellung des Fürsten mit Gott ist daher in jeder Hinsicht unwahr und weil sie zur Ueberschätzung und zum Uebermuthe verleitet, verderblich. Der Statszweck musz menschlich erkennbar, menschlich bestimmbar und wenigstens annähernd menschlich erreichbar sein. 3. Durchaus verwerflich ist es, den Statszweck auszer- halb des Volkes und Landes zu setzen, welche den Stat bilden, so dasz der ganze Stat nur ein Mittel würde für auszerstatliche und fremde Zwecke. Wenn die klerikale Partei die Nothwendigkeit eines

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/370>, abgerufen am 22.11.2024.