Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
Wenn wir den Stat einen Organismus nennen, so denken wir auch nicht an die Thätigkeit der Naturgeschöpfe, Nahrung zu suchen, aufzunehmen und umzubilden, und ihre Art fort- zupflanzen. Wir denken vielmehr an folgende Eigenschaften der natürlichen Organismen:
a) Jeder Organismus ist eine Verbindung von leib- lich-materiellen Elementen mit belebt-seelischen Kräften, oder kurz von Seele und Leib.
b) Obwohl das organische Wesen Ein Ganzes ist und bleibt, so ist es doch in seinen Theilen mit Gliedern aus- gestattet, welche von besonderen Trieben und Fähigkeiten beseelt sind, um den wechselnden Lebensbedürfnissen auch des Ganzen in mannigfaltiger Weise Befriedigung zu ver- schaffen.
c) Der Organismus hat eine Entwicklung von Innen heraus und ein äuszeres Wachsthum.
In allen drei Beziehungen zeigt sich die organische Natur des States:
a) In dem State sind der Statsgeist und der Stats- körper, der Statswille und die wirkenden Statsorgane nothwendig verbunden zu Einem Leben. Der Eine Volks- geist, der etwas anderes ist als die Durchschnittssumme der gleichzeitigen Geister aller Bürger, ist der Statsgeist. Der Eine Volkswille, der verschieden ist von dem Durchschnittswillen der Menge, ist der Statswille. Die Statsverfassung mit ihren Organen einer Repräsentation des Ganzen, welche den Statswillen als Gesetz ausspricht, mit einem Statshaupte, welches regiert, mit mancherlei Behörden und Aemtern, welche die Verwaltung ausüben, mit den Gerichten, welche die Gerech- tigkeit des States handhaben, mit Pflegeämtern aller Art für die gemeinsamen Cultur- und Wirthschaftsinteressen, mit dem Heere, welches die Stärke des States bedeutet, diese Stats- verfassung ist der Statskörper, in dessen Gestalt das Volk sein Gesammtleben zur Erscheinung bringt. Charakter, Geist und
Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
Wenn wir den Stat einen Organismus nennen, so denken wir auch nicht an die Thätigkeit der Naturgeschöpfe, Nahrung zu suchen, aufzunehmen und umzubilden, und ihre Art fort- zupflanzen. Wir denken vielmehr an folgende Eigenschaften der natürlichen Organismen:
a) Jeder Organismus ist eine Verbindung von leib- lich-materiellen Elementen mit belebt-seelischen Kräften, oder kurz von Seele und Leib.
b) Obwohl das organische Wesen Ein Ganzes ist und bleibt, so ist es doch in seinen Theilen mit Gliedern aus- gestattet, welche von besonderen Trieben und Fähigkeiten beseelt sind, um den wechselnden Lebensbedürfnissen auch des Ganzen in mannigfaltiger Weise Befriedigung zu ver- schaffen.
c) Der Organismus hat eine Entwicklung von Innen heraus und ein äuszeres Wachsthum.
In allen drei Beziehungen zeigt sich die organische Natur des States:
a) In dem State sind der Statsgeist und der Stats- körper, der Statswille und die wirkenden Statsorgane nothwendig verbunden zu Einem Leben. Der Eine Volks- geist, der etwas anderes ist als die Durchschnittssumme der gleichzeitigen Geister aller Bürger, ist der Statsgeist. Der Eine Volkswille, der verschieden ist von dem Durchschnittswillen der Menge, ist der Statswille. Die Statsverfassung mit ihren Organen einer Repräsentation des Ganzen, welche den Statswillen als Gesetz ausspricht, mit einem Statshaupte, welches regiert, mit mancherlei Behörden und Aemtern, welche die Verwaltung ausüben, mit den Gerichten, welche die Gerech- tigkeit des States handhaben, mit Pflegeämtern aller Art für die gemeinsamen Cultur- und Wirthschaftsinteressen, mit dem Heere, welches die Stärke des States bedeutet, diese Stats- verfassung ist der Statskörper, in dessen Gestalt das Volk sein Gesammtleben zur Erscheinung bringt. Charakter, Geist und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0037"n="19"/><fwplace="top"type="header">Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.</fw><lb/><p>Wenn wir den Stat einen Organismus nennen, so denken<lb/>
wir auch nicht an die Thätigkeit der Naturgeschöpfe, Nahrung<lb/>
zu suchen, aufzunehmen und umzubilden, und ihre Art fort-<lb/>
zupflanzen. Wir denken vielmehr an folgende Eigenschaften<lb/>
der natürlichen Organismen:</p><lb/><p>a) Jeder Organismus ist eine <hirendition="#g">Verbindung</hi> von <hirendition="#g">leib-<lb/>
lich-materiellen</hi> Elementen mit <hirendition="#g">belebt-seelischen</hi><lb/>
Kräften, oder kurz von <hirendition="#g">Seele</hi> und <hirendition="#g">Leib</hi>.</p><lb/><p>b) Obwohl das organische Wesen <hirendition="#g">Ein Ganzes</hi> ist und<lb/>
bleibt, so ist es doch in seinen Theilen mit <hirendition="#g">Gliedern</hi> aus-<lb/>
gestattet, welche von besonderen Trieben und Fähigkeiten<lb/>
beseelt sind, um den wechselnden Lebensbedürfnissen auch<lb/>
des Ganzen in mannigfaltiger Weise Befriedigung zu ver-<lb/>
schaffen.</p><lb/><p>c) Der Organismus hat eine <hirendition="#g">Entwicklung</hi> von Innen<lb/>
heraus und ein <hirendition="#g">äuszeres Wachsthum</hi>.</p><lb/><p>In allen drei Beziehungen zeigt sich die organische Natur<lb/>
des States:</p><lb/><p>a) In dem State sind der <hirendition="#g">Statsgeist</hi> und der <hirendition="#g">Stats-<lb/>
körper</hi>, der <hirendition="#g">Statswille</hi> und die wirkenden <hirendition="#g">Statsorgane</hi><lb/>
nothwendig verbunden zu Einem Leben. Der <hirendition="#g">Eine Volks-<lb/>
geist</hi>, der etwas anderes ist als die Durchschnittssumme der<lb/>
gleichzeitigen Geister aller Bürger, ist der Statsgeist. Der <hirendition="#g">Eine<lb/>
Volkswille</hi>, der verschieden ist von dem Durchschnittswillen<lb/>
der Menge, ist der Statswille. Die <hirendition="#g">Statsverfassung</hi> mit<lb/>
ihren Organen einer Repräsentation des Ganzen, welche den<lb/>
Statswillen als Gesetz ausspricht, mit einem Statshaupte, welches<lb/>
regiert, mit mancherlei Behörden und Aemtern, welche die<lb/>
Verwaltung ausüben, mit den Gerichten, welche die Gerech-<lb/>
tigkeit des States handhaben, mit Pflegeämtern aller Art für<lb/>
die gemeinsamen Cultur- und Wirthschaftsinteressen, mit dem<lb/>
Heere, welches die Stärke des States bedeutet, diese Stats-<lb/>
verfassung ist der Statskörper, in dessen Gestalt das Volk sein<lb/>
Gesammtleben zur Erscheinung bringt. Charakter, Geist und<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[19/0037]
Erstes Capitel. Statsbegriff u. Statsidee. Der allgemeine Statsbegriff.
Wenn wir den Stat einen Organismus nennen, so denken
wir auch nicht an die Thätigkeit der Naturgeschöpfe, Nahrung
zu suchen, aufzunehmen und umzubilden, und ihre Art fort-
zupflanzen. Wir denken vielmehr an folgende Eigenschaften
der natürlichen Organismen:
a) Jeder Organismus ist eine Verbindung von leib-
lich-materiellen Elementen mit belebt-seelischen
Kräften, oder kurz von Seele und Leib.
b) Obwohl das organische Wesen Ein Ganzes ist und
bleibt, so ist es doch in seinen Theilen mit Gliedern aus-
gestattet, welche von besonderen Trieben und Fähigkeiten
beseelt sind, um den wechselnden Lebensbedürfnissen auch
des Ganzen in mannigfaltiger Weise Befriedigung zu ver-
schaffen.
c) Der Organismus hat eine Entwicklung von Innen
heraus und ein äuszeres Wachsthum.
In allen drei Beziehungen zeigt sich die organische Natur
des States:
a) In dem State sind der Statsgeist und der Stats-
körper, der Statswille und die wirkenden Statsorgane
nothwendig verbunden zu Einem Leben. Der Eine Volks-
geist, der etwas anderes ist als die Durchschnittssumme der
gleichzeitigen Geister aller Bürger, ist der Statsgeist. Der Eine
Volkswille, der verschieden ist von dem Durchschnittswillen
der Menge, ist der Statswille. Die Statsverfassung mit
ihren Organen einer Repräsentation des Ganzen, welche den
Statswillen als Gesetz ausspricht, mit einem Statshaupte, welches
regiert, mit mancherlei Behörden und Aemtern, welche die
Verwaltung ausüben, mit den Gerichten, welche die Gerech-
tigkeit des States handhaben, mit Pflegeämtern aller Art für
die gemeinsamen Cultur- und Wirthschaftsinteressen, mit dem
Heere, welches die Stärke des States bedeutet, diese Stats-
verfassung ist der Statskörper, in dessen Gestalt das Volk sein
Gesammtleben zur Erscheinung bringt. Charakter, Geist und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/37>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.