Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.
bestimmend auf die Gestaltung des States einwirken kann und darf, und im Widerspruch zu einer gedankenlosen Empirie vindicirt sie der menschlichen Freiheit mit dem Be- wusztsein von der Vernünftigkeit des States ihr Recht.
Anmerkungen. 1. Der berühmte Satz des Aristoteles (Polit. I. 1, 11.), dasz der Stat früher sei als die einzelnen Bürger, wie das Ganze früher als der Theil, widerlegt in der That den Gedanken, dasz von den Individuen der Stat erfunden und gemacht werden könne, hin- reichend. Das politische Individuum, der Bürger, ist nur ein Glied in dem Statskörper, das für sich allein und losgerissen von dem Zusammen- hang mit dem State als solches keine Existenz hat.
2. Der Irrthum, den Stat auf den individuellen Willen zu begrün- den, steht in Verbindung mit dem noch mehr verbreiteten, und auch von Männern, welche diese Vertragstheorie verachten, oft getheilten Irr- thum, dasz das Recht überhaupt das Erzeugnisz des freien Wil- lens sei. Allerdings ist dem freien Willen des Menschen die Macht gegeben, in manchen Beziehungen Recht zu gestalten, abzuändern, um- zuwandeln; aber der gröszte Theil des Rechts war von jeher durch die Existenz der Weltordnung und die Natur der Menschen und Verhält- nisse gegeben, und von dem Willen der Menschen durchaus unab- hängig. Das meiste Recht wird nicht erdacht, sondern gefunden und erkannt, "geschöpft," nicht geschaffen; und mehr noch als das "Wir wollen" der menschlichen Subjecte ist das "Ihr sollt" von entscheidendem Einflusz geworden auf die Rechtsbildung. Auch Hegel, indem er das Recht zwar nicht aus dem "particularen Einzelwillen," sondern aus dem "wahren," dem "an und für sich seienden" Willen hervorgehen läszt, hat die Natur des Rechtes nicht wahrhaft begriffen, obwohl er die Unrichtigkeit der Vertragstheorie vollkommen eingesehen hat. Vgl. Rechtsphilosophie §. 259.
3. Ein Schweizer, der Genfer Bürger J. J. Rousseau, hatte der Vertragstheorie mit den glänzenden Waffen seiner beredten Dialektik vorzüglich den Sieg in der öffentlichen Meinung verschafft. Ein anderer Schweizer, der Bernerische Patricier Ludwig von Haller, griff die ganze naturrechtliche Lehre seiner Zeit mit groszer Energie an und überwand die Vertragstheorie durch seine gründliche Bekämpfung voll- ständig. Weniger glücklich war er in der positiven Begründung der Statswissenschaft, die er "Restauration" nannte. Es geschieht ihm frei- lich Unrecht, wenn man seine Lehre mit der Theorie der Gewaltherr- schaft identificirt und ihn für einen Vertheidiger von jeglichem Despotis- mus erklärt. Aber er ist der Lehrer der Reaction, wie Rousseau der Lehrer der Revolution.
Haller gründet den Stat auf das "Naturgesetz, dasz der Mäch-
Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.
bestimmend auf die Gestaltung des States einwirken kann und darf, und im Widerspruch zu einer gedankenlosen Empirie vindicirt sie der menschlichen Freiheit mit dem Be- wusztsein von der Vernünftigkeit des States ihr Recht.
Anmerkungen. 1. Der berühmte Satz des Aristoteles (Polit. I. 1, 11.), dasz der Stat früher sei als die einzelnen Bürger, wie das Ganze früher als der Theil, widerlegt in der That den Gedanken, dasz von den Individuen der Stat erfunden und gemacht werden könne, hin- reichend. Das politische Individuum, der Bürger, ist nur ein Glied in dem Statskörper, das für sich allein und losgerissen von dem Zusammen- hang mit dem State als solches keine Existenz hat.
2. Der Irrthum, den Stat auf den individuellen Willen zu begrün- den, steht in Verbindung mit dem noch mehr verbreiteten, und auch von Männern, welche diese Vertragstheorie verachten, oft getheilten Irr- thum, dasz das Recht überhaupt das Erzeugnisz des freien Wil- lens sei. Allerdings ist dem freien Willen des Menschen die Macht gegeben, in manchen Beziehungen Recht zu gestalten, abzuändern, um- zuwandeln; aber der gröszte Theil des Rechts war von jeher durch die Existenz der Weltordnung und die Natur der Menschen und Verhält- nisse gegeben, und von dem Willen der Menschen durchaus unab- hängig. Das meiste Recht wird nicht erdacht, sondern gefunden und erkannt, „geschöpft,“ nicht geschaffen; und mehr noch als das „Wir wollen“ der menschlichen Subjecte ist das „Ihr sollt“ von entscheidendem Einflusz geworden auf die Rechtsbildung. Auch Hegel, indem er das Recht zwar nicht aus dem „particularen Einzelwillen,“ sondern aus dem „wahren,“ dem „an und für sich seienden“ Willen hervorgehen läszt, hat die Natur des Rechtes nicht wahrhaft begriffen, obwohl er die Unrichtigkeit der Vertragstheorie vollkommen eingesehen hat. Vgl. Rechtsphilosophie §. 259.
3. Ein Schweizer, der Genfer Bürger J. J. Rousseau, hatte der Vertragstheorie mit den glänzenden Waffen seiner beredten Dialektik vorzüglich den Sieg in der öffentlichen Meinung verschafft. Ein anderer Schweizer, der Bernerische Patricier Ludwig von Haller, griff die ganze naturrechtliche Lehre seiner Zeit mit groszer Energie an und überwand die Vertragstheorie durch seine gründliche Bekämpfung voll- ständig. Weniger glücklich war er in der positiven Begründung der Statswissenschaft, die er „Restauration“ nannte. Es geschieht ihm frei- lich Unrecht, wenn man seine Lehre mit der Theorie der Gewaltherr- schaft identificirt und ihn für einen Vertheidiger von jeglichem Despotis- mus erklärt. Aber er ist der Lehrer der Reaction, wie Rousseau der Lehrer der Revolution.
Haller gründet den Stat auf das „Naturgesetz, dasz der Mäch-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0357"n="339"/><fwplace="top"type="header">Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.</fw><lb/>
bestimmend auf die Gestaltung des States einwirken kann und<lb/>
darf, und im Widerspruch zu einer gedankenlosen Empirie<lb/>
vindicirt sie der <hirendition="#g">menschlichen Freiheit</hi> mit dem Be-<lb/>
wusztsein von der Vernünftigkeit des States ihr Recht.</p><lb/><p><hirendition="#g">Anmerkungen</hi>. 1. Der berühmte Satz des <hirendition="#g">Aristoteles</hi> (Polit.<lb/>
I. 1, 11.), dasz der Stat früher sei als die einzelnen Bürger, wie das<lb/>
Ganze früher als der Theil, widerlegt in der That den Gedanken, dasz<lb/>
von den Individuen der Stat erfunden und gemacht werden könne, hin-<lb/>
reichend. Das politische Individuum, der Bürger, ist nur ein Glied in<lb/>
dem Statskörper, das für sich allein und losgerissen von dem Zusammen-<lb/>
hang mit dem State als solches keine Existenz hat.</p><lb/><p>2. Der Irrthum, den Stat auf den individuellen Willen zu begrün-<lb/>
den, steht in Verbindung mit dem noch mehr verbreiteten, und auch<lb/>
von Männern, welche diese Vertragstheorie verachten, oft getheilten Irr-<lb/>
thum, dasz das <hirendition="#g">Recht</hi> überhaupt das <hirendition="#g">Erzeugnisz des freien Wil-<lb/>
lens</hi> sei. Allerdings ist dem freien Willen des Menschen die Macht<lb/>
gegeben, in manchen Beziehungen Recht zu gestalten, abzuändern, um-<lb/>
zuwandeln; aber der gröszte Theil des Rechts war von jeher durch die<lb/>
Existenz der Weltordnung und die Natur der Menschen und Verhält-<lb/>
nisse <hirendition="#g">gegeben</hi>, und von dem Willen der Menschen durchaus <hirendition="#g">unab-<lb/>
hängig</hi>. Das meiste Recht wird nicht erdacht, sondern <hirendition="#g">gefunden</hi> und<lb/><hirendition="#g">erkannt</hi>, „<hirendition="#g">geschöpft</hi>,“<hirendition="#g">nicht geschaffen</hi>; und mehr noch als das<lb/>„<hirendition="#g">Wir wollen</hi>“ der menschlichen Subjecte ist das „<hirendition="#g">Ihr sollt</hi>“ von<lb/>
entscheidendem Einflusz geworden auf die Rechtsbildung. Auch <hirendition="#g">Hegel</hi>,<lb/>
indem er das Recht zwar nicht aus dem „particularen Einzelwillen,“<lb/>
sondern aus dem „wahren,“ dem „an und für sich seienden“ Willen<lb/>
hervorgehen läszt, hat die Natur des Rechtes nicht wahrhaft begriffen,<lb/>
obwohl er die Unrichtigkeit der Vertragstheorie vollkommen eingesehen<lb/>
hat. Vgl. Rechtsphilosophie §. 259.</p><lb/><p>3. Ein Schweizer, der Genfer Bürger J. J. <hirendition="#g">Rousseau</hi>, hatte der<lb/>
Vertragstheorie mit den glänzenden Waffen seiner beredten Dialektik<lb/>
vorzüglich den Sieg in der öffentlichen Meinung verschafft. Ein anderer<lb/>
Schweizer, der Bernerische Patricier <hirendition="#g">Ludwig von Haller</hi>, griff die<lb/>
ganze naturrechtliche Lehre seiner Zeit mit groszer Energie an und<lb/>
überwand die Vertragstheorie durch seine gründliche Bekämpfung voll-<lb/>
ständig. Weniger glücklich war er in der positiven Begründung der<lb/>
Statswissenschaft, die er „Restauration“ nannte. Es geschieht ihm frei-<lb/>
lich Unrecht, wenn man seine Lehre mit der Theorie der Gewaltherr-<lb/>
schaft identificirt und ihn für einen Vertheidiger von jeglichem Despotis-<lb/>
mus erklärt. Aber er ist der Lehrer der Reaction, wie Rousseau der<lb/>
Lehrer der Revolution.</p><lb/><p>Haller gründet den Stat auf das „<hirendition="#g">Naturgesetz, dasz der Mäch</hi>-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[339/0357]
Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.
bestimmend auf die Gestaltung des States einwirken kann und
darf, und im Widerspruch zu einer gedankenlosen Empirie
vindicirt sie der menschlichen Freiheit mit dem Be-
wusztsein von der Vernünftigkeit des States ihr Recht.
Anmerkungen. 1. Der berühmte Satz des Aristoteles (Polit.
I. 1, 11.), dasz der Stat früher sei als die einzelnen Bürger, wie das
Ganze früher als der Theil, widerlegt in der That den Gedanken, dasz
von den Individuen der Stat erfunden und gemacht werden könne, hin-
reichend. Das politische Individuum, der Bürger, ist nur ein Glied in
dem Statskörper, das für sich allein und losgerissen von dem Zusammen-
hang mit dem State als solches keine Existenz hat.
2. Der Irrthum, den Stat auf den individuellen Willen zu begrün-
den, steht in Verbindung mit dem noch mehr verbreiteten, und auch
von Männern, welche diese Vertragstheorie verachten, oft getheilten Irr-
thum, dasz das Recht überhaupt das Erzeugnisz des freien Wil-
lens sei. Allerdings ist dem freien Willen des Menschen die Macht
gegeben, in manchen Beziehungen Recht zu gestalten, abzuändern, um-
zuwandeln; aber der gröszte Theil des Rechts war von jeher durch die
Existenz der Weltordnung und die Natur der Menschen und Verhält-
nisse gegeben, und von dem Willen der Menschen durchaus unab-
hängig. Das meiste Recht wird nicht erdacht, sondern gefunden und
erkannt, „geschöpft,“ nicht geschaffen; und mehr noch als das
„Wir wollen“ der menschlichen Subjecte ist das „Ihr sollt“ von
entscheidendem Einflusz geworden auf die Rechtsbildung. Auch Hegel,
indem er das Recht zwar nicht aus dem „particularen Einzelwillen,“
sondern aus dem „wahren,“ dem „an und für sich seienden“ Willen
hervorgehen läszt, hat die Natur des Rechtes nicht wahrhaft begriffen,
obwohl er die Unrichtigkeit der Vertragstheorie vollkommen eingesehen
hat. Vgl. Rechtsphilosophie §. 259.
3. Ein Schweizer, der Genfer Bürger J. J. Rousseau, hatte der
Vertragstheorie mit den glänzenden Waffen seiner beredten Dialektik
vorzüglich den Sieg in der öffentlichen Meinung verschafft. Ein anderer
Schweizer, der Bernerische Patricier Ludwig von Haller, griff die
ganze naturrechtliche Lehre seiner Zeit mit groszer Energie an und
überwand die Vertragstheorie durch seine gründliche Bekämpfung voll-
ständig. Weniger glücklich war er in der positiven Begründung der
Statswissenschaft, die er „Restauration“ nannte. Es geschieht ihm frei-
lich Unrecht, wenn man seine Lehre mit der Theorie der Gewaltherr-
schaft identificirt und ihn für einen Vertheidiger von jeglichem Despotis-
mus erklärt. Aber er ist der Lehrer der Reaction, wie Rousseau der
Lehrer der Revolution.
Haller gründet den Stat auf das „Naturgesetz, dasz der Mäch-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/357>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.