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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
gestatten würde. Christus selbst hat durch sein groszes Wort:
"Gebet Gott was Gott, und dem Kaiser was dem Kaiser ge-
bührt," viel schärfer und entschiedener auf die menschliche
Natur des States hingewiesen und jede Identificirung
statlicher Gewalt
mit specifisch-göttlicher Herr-
schaft
verworfen. Die weltliche Statslehre thut daher wohl
daran, die Existenz und die Einrichtungen des States von dem
menschlichen Standpunkte zu betrachten und menschlich zu
nehmen.

4. Nicht selten wurde die Unveränderlichkeit der be-
stehenden Statsverfassungen und insbesondere auch die Un-
veränderlichkeit der Person des Regenten oder seiner Dynastie
mit dem Princip verfochten, dasz die obrigkeitliche Gewalt
von Gott geordnet sei. Allein dasz die Unveränderlichkeit der
äuszeren Formen und der persönlichen Beziehungen nicht zu
den nothwendigen Eigenschaften der göttlichen Weltordnung
und Weltleitung gehöre, beweist die ganze Weltgeschichte,
und Paulus hat gerade durch seine Mahnung, der jeweilig
bestehenden
Obrigkeit Gehorsam zu leisten, die Wandel-
barkeit
auch der statlichen Ordnung und Regierung mittel-
bar anerkannt. Wohl mochte im XVII. Jahrhundert jene
Vorschrift in der Seele vieler frommen Engländer ernste Be-
denken darüber erregen, ob der Widerstand gegen die tyran-
nischen Gebote Jakobs II. erlaubt sei, und Gewissensscrupel
hervorrufen, ob die Entsetzung des Königs zu rechtfertigen
sei. Aber nachdem Wilhelm von Oranien von der Nation und
von dem Parlamente als König anerkannt war, konnte auch
der in religiöser Hinsicht ängstlichste und gewissenhafteste
Tory unbedenklich in diesem die "von Gott geordnete Obrig-
keit" verehren.

5. Aehnlich verhält es sich mit der Frage der Verant-
wortlichkeit. Dasz die Statsmänner, welchen viel anvertraut
ist, und dasz die Fürsten, welchen Macht verliehen ist, Gott
verantwortlich
seien für das was sie thun oder unterlassen,

Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
gestatten würde. Christus selbst hat durch sein groszes Wort:
„Gebet Gott was Gott, und dem Kaiser was dem Kaiser ge-
bührt,“ viel schärfer und entschiedener auf die menschliche
Natur des States hingewiesen und jede Identificirung
statlicher Gewalt
mit specifisch-göttlicher Herr-
schaft
verworfen. Die weltliche Statslehre thut daher wohl
daran, die Existenz und die Einrichtungen des States von dem
menschlichen Standpunkte zu betrachten und menschlich zu
nehmen.

4. Nicht selten wurde die Unveränderlichkeit der be-
stehenden Statsverfassungen und insbesondere auch die Un-
veränderlichkeit der Person des Regenten oder seiner Dynastie
mit dem Princip verfochten, dasz die obrigkeitliche Gewalt
von Gott geordnet sei. Allein dasz die Unveränderlichkeit der
äuszeren Formen und der persönlichen Beziehungen nicht zu
den nothwendigen Eigenschaften der göttlichen Weltordnung
und Weltleitung gehöre, beweist die ganze Weltgeschichte,
und Paulus hat gerade durch seine Mahnung, der jeweilig
bestehenden
Obrigkeit Gehorsam zu leisten, die Wandel-
barkeit
auch der statlichen Ordnung und Regierung mittel-
bar anerkannt. Wohl mochte im XVII. Jahrhundert jene
Vorschrift in der Seele vieler frommen Engländer ernste Be-
denken darüber erregen, ob der Widerstand gegen die tyran-
nischen Gebote Jakobs II. erlaubt sei, und Gewissensscrupel
hervorrufen, ob die Entsetzung des Königs zu rechtfertigen
sei. Aber nachdem Wilhelm von Oranien von der Nation und
von dem Parlamente als König anerkannt war, konnte auch
der in religiöser Hinsicht ängstlichste und gewissenhafteste
Tory unbedenklich in diesem die „von Gott geordnete Obrig-
keit“ verehren.

5. Aehnlich verhält es sich mit der Frage der Verant-
wortlichkeit. Dasz die Statsmänner, welchen viel anvertraut
ist, und dasz die Fürsten, welchen Macht verliehen ist, Gott
verantwortlich
seien für das was sie thun oder unterlassen,

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[330/0348] Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States. gestatten würde. Christus selbst hat durch sein groszes Wort: „Gebet Gott was Gott, und dem Kaiser was dem Kaiser ge- bührt,“ viel schärfer und entschiedener auf die menschliche Natur des States hingewiesen und jede Identificirung statlicher Gewalt mit specifisch-göttlicher Herr- schaft verworfen. Die weltliche Statslehre thut daher wohl daran, die Existenz und die Einrichtungen des States von dem menschlichen Standpunkte zu betrachten und menschlich zu nehmen. 4. Nicht selten wurde die Unveränderlichkeit der be- stehenden Statsverfassungen und insbesondere auch die Un- veränderlichkeit der Person des Regenten oder seiner Dynastie mit dem Princip verfochten, dasz die obrigkeitliche Gewalt von Gott geordnet sei. Allein dasz die Unveränderlichkeit der äuszeren Formen und der persönlichen Beziehungen nicht zu den nothwendigen Eigenschaften der göttlichen Weltordnung und Weltleitung gehöre, beweist die ganze Weltgeschichte, und Paulus hat gerade durch seine Mahnung, der jeweilig bestehenden Obrigkeit Gehorsam zu leisten, die Wandel- barkeit auch der statlichen Ordnung und Regierung mittel- bar anerkannt. Wohl mochte im XVII. Jahrhundert jene Vorschrift in der Seele vieler frommen Engländer ernste Be- denken darüber erregen, ob der Widerstand gegen die tyran- nischen Gebote Jakobs II. erlaubt sei, und Gewissensscrupel hervorrufen, ob die Entsetzung des Königs zu rechtfertigen sei. Aber nachdem Wilhelm von Oranien von der Nation und von dem Parlamente als König anerkannt war, konnte auch der in religiöser Hinsicht ängstlichste und gewissenhafteste Tory unbedenklich in diesem die „von Gott geordnete Obrig- keit“ verehren. 5. Aehnlich verhält es sich mit der Frage der Verant- wortlichkeit. Dasz die Statsmänner, welchen viel anvertraut ist, und dasz die Fürsten, welchen Macht verliehen ist, Gott verantwortlich seien für das was sie thun oder unterlassen,

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/348>, abgerufen am 22.11.2024.