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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Cap. B. Speculative Theorien. II. Der Stat als göttliche Institution.
Alterthum unternommen, ohne dasz Gebet und Opfer vorher-
gegangen waren und in dem Statsrechte der Römer nahm die
Sorge der Auspicien, durch welche der Wille der Götter er-
forscht wurde, eine sehr wichtige Stellung ein. Sie verbanden
mit dem Bewusztsein menschlicher Freiheit und Selbstbestim-
mung den Glauben an eine göttliche Leitung der menschlichen
Dinge; und wenn sie schon in dem Schicksal des einzelnen
Individuums die Macht der Götter erfuhren, so schien es ihnen
noch klarer, dasz das Schicksal jener groszen sittlichen Lebens-
gemeinschaft, die wir Stat nennen, nicht losgerissen sei von
dem Willen und dem Walten der Gottheit. 2 Hatten sie etwa
hierin Unrecht?

Es versteht sich von selbst, dasz das Christenthum den
Stat nicht auszerhalb der göttlichen Weltordnung und
Weltregierung zu denken vermag, und es ist für die christ-
liche Auffassung bezeichnend, dasz der Apostel Paulus zu
einer Zeit, als der Kaiser Nero von Statswegen die Christen
verfolgte, jenes berühmte Wort an die christlich gesinnten
Römer richtete: "Jedermann sei unterthan der Obrigkeit, die
Gewalt über ihn hat; denn es ist keine Obrigkeit, ohne von
Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet."
(Römerbrief 13, 1.) Daher kann es uns auch nicht befremden,

2 Plutarch sagt darüber in einer von Haller (Restaur. I. S. 427)
citirten Stelle sehr schön: "Meines Erachtens könnte eine Stadt leichter
ohne einen Boden gegründet werden, als ein Stat sich bilden oder be-
stehen ohne Glauben an Gott." Auch in neuerer Zeit hat Washington,
in seiner Inaugurationsrede an den Congresz im Jahre 1789, diesen
Glauben bezeugt: "Ich werde es nicht vernachläszigen, in diesem ersten
officiellen Acte, aus ganzer Seele mein Flehen an das göttliche Wesen
zu richten, welches alles nach seinem Willen ordnet, welches die Rath-
schläge der Nationen leitet und die Schwachen aufrecht hält. Möge
sein Segen über der Regierung der Vereinigten Staten walten, die sie
unter sich eingerichtet haben zu ihrer Wohlfahrt. Kein Volk hat je
zahlreichere und offenbarere Gunstbezeugungen der Vorsehung erhalten.
Ihre göttliche Hand hat alle Bestrebungen mit ihrem Segen begleitet,
welche unsere Unabhängigkeit gesichert haben."

Siebentes Cap. B. Speculative Theorien. II. Der Stat als göttliche Institution.
Alterthum unternommen, ohne dasz Gebet und Opfer vorher-
gegangen waren und in dem Statsrechte der Römer nahm die
Sorge der Auspicien, durch welche der Wille der Götter er-
forscht wurde, eine sehr wichtige Stellung ein. Sie verbanden
mit dem Bewusztsein menschlicher Freiheit und Selbstbestim-
mung den Glauben an eine göttliche Leitung der menschlichen
Dinge; und wenn sie schon in dem Schicksal des einzelnen
Individuums die Macht der Götter erfuhren, so schien es ihnen
noch klarer, dasz das Schicksal jener groszen sittlichen Lebens-
gemeinschaft, die wir Stat nennen, nicht losgerissen sei von
dem Willen und dem Walten der Gottheit. 2 Hatten sie etwa
hierin Unrecht?

Es versteht sich von selbst, dasz das Christenthum den
Stat nicht auszerhalb der göttlichen Weltordnung und
Weltregierung zu denken vermag, und es ist für die christ-
liche Auffassung bezeichnend, dasz der Apostel Paulus zu
einer Zeit, als der Kaiser Nero von Statswegen die Christen
verfolgte, jenes berühmte Wort an die christlich gesinnten
Römer richtete: „Jedermann sei unterthan der Obrigkeit, die
Gewalt über ihn hat; denn es ist keine Obrigkeit, ohne von
Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.“
(Römerbrief 13, 1.) Daher kann es uns auch nicht befremden,

2 Plutarch sagt darüber in einer von Haller (Restaur. I. S. 427)
citirten Stelle sehr schön: „Meines Erachtens könnte eine Stadt leichter
ohne einen Boden gegründet werden, als ein Stat sich bilden oder be-
stehen ohne Glauben an Gott.“ Auch in neuerer Zeit hat Washington,
in seiner Inaugurationsrede an den Congresz im Jahre 1789, diesen
Glauben bezeugt: „Ich werde es nicht vernachläszigen, in diesem ersten
officiellen Acte, aus ganzer Seele mein Flehen an das göttliche Wesen
zu richten, welches alles nach seinem Willen ordnet, welches die Rath-
schläge der Nationen leitet und die Schwachen aufrecht hält. Möge
sein Segen über der Regierung der Vereinigten Staten walten, die sie
unter sich eingerichtet haben zu ihrer Wohlfahrt. Kein Volk hat je
zahlreichere und offenbarere Gunstbezeugungen der Vorsehung erhalten.
Ihre göttliche Hand hat alle Bestrebungen mit ihrem Segen begleitet,
welche unsere Unabhängigkeit gesichert haben.“
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[327/0345] Siebentes Cap. B. Speculative Theorien. II. Der Stat als göttliche Institution. Alterthum unternommen, ohne dasz Gebet und Opfer vorher- gegangen waren und in dem Statsrechte der Römer nahm die Sorge der Auspicien, durch welche der Wille der Götter er- forscht wurde, eine sehr wichtige Stellung ein. Sie verbanden mit dem Bewusztsein menschlicher Freiheit und Selbstbestim- mung den Glauben an eine göttliche Leitung der menschlichen Dinge; und wenn sie schon in dem Schicksal des einzelnen Individuums die Macht der Götter erfuhren, so schien es ihnen noch klarer, dasz das Schicksal jener groszen sittlichen Lebens- gemeinschaft, die wir Stat nennen, nicht losgerissen sei von dem Willen und dem Walten der Gottheit. 2 Hatten sie etwa hierin Unrecht? Es versteht sich von selbst, dasz das Christenthum den Stat nicht auszerhalb der göttlichen Weltordnung und Weltregierung zu denken vermag, und es ist für die christ- liche Auffassung bezeichnend, dasz der Apostel Paulus zu einer Zeit, als der Kaiser Nero von Statswegen die Christen verfolgte, jenes berühmte Wort an die christlich gesinnten Römer richtete: „Jedermann sei unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat; denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.“ (Römerbrief 13, 1.) Daher kann es uns auch nicht befremden, 2 Plutarch sagt darüber in einer von Haller (Restaur. I. S. 427) citirten Stelle sehr schön: „Meines Erachtens könnte eine Stadt leichter ohne einen Boden gegründet werden, als ein Stat sich bilden oder be- stehen ohne Glauben an Gott.“ Auch in neuerer Zeit hat Washington, in seiner Inaugurationsrede an den Congresz im Jahre 1789, diesen Glauben bezeugt: „Ich werde es nicht vernachläszigen, in diesem ersten officiellen Acte, aus ganzer Seele mein Flehen an das göttliche Wesen zu richten, welches alles nach seinem Willen ordnet, welches die Rath- schläge der Nationen leitet und die Schwachen aufrecht hält. Möge sein Segen über der Regierung der Vereinigten Staten walten, die sie unter sich eingerichtet haben zu ihrer Wohlfahrt. Kein Volk hat je zahlreichere und offenbarere Gunstbezeugungen der Vorsehung erhalten. Ihre göttliche Hand hat alle Bestrebungen mit ihrem Segen begleitet, welche unsere Unabhängigkeit gesichert haben.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/345>, abgerufen am 23.11.2024.