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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Capitel. B. Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand.
sicherte. So dachte man sich den Stat, wenn auch nicht
immer als ein nothwendiges Uebel, doch als eine Noth-
und Zwangsanstalt, um gröszern Uebeln zu entgehen.

Im Gegensatze zu dieser kindlich heitern Vorstellung von
dem Paradiese dachten sich andere und zuweilen griesgräm-
liche Philosophen den Zustand des ersten, noch unstatlichen,
Menschen viel schlimmer. Ihre ängstliche Phantasie malte
statt des göttlichen Friedens einen unablässigen Hader und
Krieg aus aller gegen alle: und wenn auch ihnen der Stat als
ein Uebel erschien, so war dieses Uebel doch erträglicher und
geringer als der ursprüngliche Naturstand, in welchem die
Menschen dem Wilde des Waldes glichen. Dieser philoso-
phische Gedanke fand in der theologischen Speculation, welche
den Stat die Ordnung nicht des Paradieses, sondern der "ge-
fallenen Menschheit" nannte, eine willkommene Bekräftigung.

Die beiderlei Vorstellungen übersehen die statliche
Natur
des Menschen. Sie haben beide keine Ahnung von
der Wahrheit, 2 die Aristoteles so schön ausgesprochen, dasz
der Mensch ein "statliches Wesen" sei. Mag man sich
immer einen Zustand der Menschen vorstellen, welcher der
Entstehung des States vorausging, dieser Zustand konnte un-
möglich den höhern Bedürfnissen derselben genügen, 3 und
es war ein unermeszlicher Fortschritt in der Entwicklungs-

2 Auch Rousseau (disc. sur l'inegalite des conditions parmi les
hommes) meinte: "Der Mensch im Naturzustand habe einen Widerwillen
(repugnait) gegen die Gesellschaft." Aber Mirabeau entgegnete ihm
vortrefflich (essai sur le despotisme) mit den Worten: "Non seulement
l'homme semble fait pour la societe, mais on peut dire qu'il n'est vrai-
ment homme c'est a dire un etre reflechissant et capable de vertu, que
lorsqu'elle commence a s'organiser. Les hommes n'ont rien voulu ni dau
sacrifier en se reunissant en societe; ils ont voulu et dau etendre leurs
jouissances
et l'usage de la liberte par les secours et la garantie reci-
proques."
3 Auch Plato de Republ. II. 369 leitet die Entstehung des States
davon her, dasz der einzelne Mensch sich selber nicht genüge, sondern
von Natur der Gemeinschaft bedürfe.

Sechstes Capitel. B. Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand.
sicherte. So dachte man sich den Stat, wenn auch nicht
immer als ein nothwendiges Uebel, doch als eine Noth-
und Zwangsanstalt, um gröszern Uebeln zu entgehen.

Im Gegensatze zu dieser kindlich heitern Vorstellung von
dem Paradiese dachten sich andere und zuweilen griesgräm-
liche Philosophen den Zustand des ersten, noch unstatlichen,
Menschen viel schlimmer. Ihre ängstliche Phantasie malte
statt des göttlichen Friedens einen unablässigen Hader und
Krieg aus aller gegen alle: und wenn auch ihnen der Stat als
ein Uebel erschien, so war dieses Uebel doch erträglicher und
geringer als der ursprüngliche Naturstand, in welchem die
Menschen dem Wilde des Waldes glichen. Dieser philoso-
phische Gedanke fand in der theologischen Speculation, welche
den Stat die Ordnung nicht des Paradieses, sondern der „ge-
fallenen Menschheit“ nannte, eine willkommene Bekräftigung.

Die beiderlei Vorstellungen übersehen die statliche
Natur
des Menschen. Sie haben beide keine Ahnung von
der Wahrheit, 2 die Aristoteles so schön ausgesprochen, dasz
der Mensch ein „statliches Wesen“ sei. Mag man sich
immer einen Zustand der Menschen vorstellen, welcher der
Entstehung des States vorausging, dieser Zustand konnte un-
möglich den höhern Bedürfnissen derselben genügen, 3 und
es war ein unermeszlicher Fortschritt in der Entwicklungs-

2 Auch Rousseau (disc. sur l'inégalité des conditions parmi les
hommes) meinte: „Der Mensch im Naturzustand habe einen Widerwillen
(répugnait) gegen die Gesellschaft.“ Aber Mirabeau entgegnete ihm
vortrefflich (essai sur le déspotisme) mit den Worten: „Non seulement
l'homme semble fait pour la société, mais on peut dire qu'il n'est vrai-
ment homme c'est à dire un être réfléchissant et capable de vertu, que
lorsqu'elle commence à s'organiser. Les hommes n'ont rien voulu ni dû
sacrifier en se réunissant en société; ils ont voulu et dû étendre leurs
jouissances
et l'usage de la liberté par les secours et la garantie réci-
proques.“
3 Auch Plato de Republ. II. 369 leitet die Entstehung des States
davon her, dasz der einzelne Mensch sich selber nicht genüge, sondern
von Natur der Gemeinschaft bedürfe.
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[325/0343] Sechstes Capitel. B. Speculative Theorien. I. Der sogenannte Naturstand. sicherte. So dachte man sich den Stat, wenn auch nicht immer als ein nothwendiges Uebel, doch als eine Noth- und Zwangsanstalt, um gröszern Uebeln zu entgehen. Im Gegensatze zu dieser kindlich heitern Vorstellung von dem Paradiese dachten sich andere und zuweilen griesgräm- liche Philosophen den Zustand des ersten, noch unstatlichen, Menschen viel schlimmer. Ihre ängstliche Phantasie malte statt des göttlichen Friedens einen unablässigen Hader und Krieg aus aller gegen alle: und wenn auch ihnen der Stat als ein Uebel erschien, so war dieses Uebel doch erträglicher und geringer als der ursprüngliche Naturstand, in welchem die Menschen dem Wilde des Waldes glichen. Dieser philoso- phische Gedanke fand in der theologischen Speculation, welche den Stat die Ordnung nicht des Paradieses, sondern der „ge- fallenen Menschheit“ nannte, eine willkommene Bekräftigung. Die beiderlei Vorstellungen übersehen die statliche Natur des Menschen. Sie haben beide keine Ahnung von der Wahrheit, 2 die Aristoteles so schön ausgesprochen, dasz der Mensch ein „statliches Wesen“ sei. Mag man sich immer einen Zustand der Menschen vorstellen, welcher der Entstehung des States vorausging, dieser Zustand konnte un- möglich den höhern Bedürfnissen derselben genügen, 3 und es war ein unermeszlicher Fortschritt in der Entwicklungs- 2 Auch Rousseau (disc. sur l'inégalité des conditions parmi les hommes) meinte: „Der Mensch im Naturzustand habe einen Widerwillen (répugnait) gegen die Gesellschaft.“ Aber Mirabeau entgegnete ihm vortrefflich (essai sur le déspotisme) mit den Worten: „Non seulement l'homme semble fait pour la société, mais on peut dire qu'il n'est vrai- ment homme c'est à dire un être réfléchissant et capable de vertu, que lorsqu'elle commence à s'organiser. Les hommes n'ont rien voulu ni dû sacrifier en se réunissant en société; ils ont voulu et dû étendre leurs jouissances et l'usage de la liberté par les secours et la garantie réci- proques.“ 3 Auch Plato de Republ. II. 369 leitet die Entstehung des States davon her, dasz der einzelne Mensch sich selber nicht genüge, sondern von Natur der Gemeinschaft bedürfe.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/343>, abgerufen am 23.11.2024.