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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. IV. Das Land.
Eroberungen schwächer werden als er war, so lange er sein
kleineres Gebiet leichter beherrschen konnte.

Ein Stat mit so weitem Gebiet ist daher auch leicht
hier oder dort zu überfallen und gleichsam anzurupfen, aber
sehr schwer, ernstlich anzugreifen, mit dauerhaftem Erfolg.
Der Feind kann ungehindert weite Strecken durchziehen,
aber es wird ihm schwer, sich zu verpflegen und noch
schwerer sich in den weiten Räumen zu behaupten. Nur
wenn es ihm gelingt, die concentrirte Macht anzugreifen
und zu schlagen, kann er gröszere Erfolge erreichen. Die
russischen und nordamerikanischen Kriege der neuern Zeit
machen diese Behauptung anschaulich.

Wenn diese breiten Staten an Unbehülflichkeit und
Schwerbeweglichkeit leiden, so kommt ihnen doch das furcht-
bare Schwergewicht der ungeheuren Massen zu statten; sie
können über gewaltige Mittel verfügen, die momentan gar
nicht auszunutzen und auszuleeren sind. Sie sind daher im
Stande, auch in gefährlichen Krisen lange auszuharren und
eine Wendung der Dinge abzuwarten, die ihnen hinwieder
günstige Chancen eröffnet. Ihre plötzliche Unterwerfung ist
fast unmöglich.

Auch auf die Verfassungsform eines States ist die
Ausdehnung des Statsgebietes von Einflusz. Die unmittelbare
Demokratie ist nur in einem kleinen Lande möglich, weil
nur da die Bürger zur Volksversammlung öfter zusammen-
treten können. Die constitutionelle Monarchie bedarf eines
weiteren Bodens zu ihrem vielgliedrigen repräsentativen Bau.
Die ungeheure Ausdehnung des römischen Weltreichs war
eine Hauptursache des Untergangs der römischen Republik
und der Concentrirung aller Statsgewalt in dem Einen abso-
luten Kaiserthum. Die Kraft des Massengewichts ist auch in
Ruszland eine Ursache der absoluten Kaisergewalt und selbst
die liberalen Engländer denken nicht daran, ihrem ostindi-
schen Reich eine parlamentarische Verfassung zu bewilligen.


Viertes Capitel. IV. Das Land.
Eroberungen schwächer werden als er war, so lange er sein
kleineres Gebiet leichter beherrschen konnte.

Ein Stat mit so weitem Gebiet ist daher auch leicht
hier oder dort zu überfallen und gleichsam anzurupfen, aber
sehr schwer, ernstlich anzugreifen, mit dauerhaftem Erfolg.
Der Feind kann ungehindert weite Strecken durchziehen,
aber es wird ihm schwer, sich zu verpflegen und noch
schwerer sich in den weiten Räumen zu behaupten. Nur
wenn es ihm gelingt, die concentrirte Macht anzugreifen
und zu schlagen, kann er gröszere Erfolge erreichen. Die
russischen und nordamerikanischen Kriege der neuern Zeit
machen diese Behauptung anschaulich.

Wenn diese breiten Staten an Unbehülflichkeit und
Schwerbeweglichkeit leiden, so kommt ihnen doch das furcht-
bare Schwergewicht der ungeheuren Massen zu statten; sie
können über gewaltige Mittel verfügen, die momentan gar
nicht auszunutzen und auszuleeren sind. Sie sind daher im
Stande, auch in gefährlichen Krisen lange auszuharren und
eine Wendung der Dinge abzuwarten, die ihnen hinwieder
günstige Chancen eröffnet. Ihre plötzliche Unterwerfung ist
fast unmöglich.

Auch auf die Verfassungsform eines States ist die
Ausdehnung des Statsgebietes von Einflusz. Die unmittelbare
Demokratie ist nur in einem kleinen Lande möglich, weil
nur da die Bürger zur Volksversammlung öfter zusammen-
treten können. Die constitutionelle Monarchie bedarf eines
weiteren Bodens zu ihrem vielgliedrigen repräsentativen Bau.
Die ungeheure Ausdehnung des römischen Weltreichs war
eine Hauptursache des Untergangs der römischen Republik
und der Concentrirung aller Statsgewalt in dem Einen abso-
luten Kaiserthum. Die Kraft des Massengewichts ist auch in
Ruszland eine Ursache der absoluten Kaisergewalt und selbst
die liberalen Engländer denken nicht daran, ihrem ostindi-
schen Reich eine parlamentarische Verfassung zu bewilligen.


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[275/0293] Viertes Capitel. IV. Das Land. Eroberungen schwächer werden als er war, so lange er sein kleineres Gebiet leichter beherrschen konnte. Ein Stat mit so weitem Gebiet ist daher auch leicht hier oder dort zu überfallen und gleichsam anzurupfen, aber sehr schwer, ernstlich anzugreifen, mit dauerhaftem Erfolg. Der Feind kann ungehindert weite Strecken durchziehen, aber es wird ihm schwer, sich zu verpflegen und noch schwerer sich in den weiten Räumen zu behaupten. Nur wenn es ihm gelingt, die concentrirte Macht anzugreifen und zu schlagen, kann er gröszere Erfolge erreichen. Die russischen und nordamerikanischen Kriege der neuern Zeit machen diese Behauptung anschaulich. Wenn diese breiten Staten an Unbehülflichkeit und Schwerbeweglichkeit leiden, so kommt ihnen doch das furcht- bare Schwergewicht der ungeheuren Massen zu statten; sie können über gewaltige Mittel verfügen, die momentan gar nicht auszunutzen und auszuleeren sind. Sie sind daher im Stande, auch in gefährlichen Krisen lange auszuharren und eine Wendung der Dinge abzuwarten, die ihnen hinwieder günstige Chancen eröffnet. Ihre plötzliche Unterwerfung ist fast unmöglich. Auch auf die Verfassungsform eines States ist die Ausdehnung des Statsgebietes von Einflusz. Die unmittelbare Demokratie ist nur in einem kleinen Lande möglich, weil nur da die Bürger zur Volksversammlung öfter zusammen- treten können. Die constitutionelle Monarchie bedarf eines weiteren Bodens zu ihrem vielgliedrigen repräsentativen Bau. Die ungeheure Ausdehnung des römischen Weltreichs war eine Hauptursache des Untergangs der römischen Republik und der Concentrirung aller Statsgewalt in dem Einen abso- luten Kaiserthum. Die Kraft des Massengewichts ist auch in Ruszland eine Ursache der absoluten Kaisergewalt und selbst die liberalen Engländer denken nicht daran, ihrem ostindi- schen Reich eine parlamentarische Verfassung zu bewilligen.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/293>, abgerufen am 22.11.2024.