historischen Bahnen folgend, leicht über der reichen Mannich- faltigkeit der Einheit vergiszt und die Einheit verliert, dasz man von der Schwere des Stoffes niedergedrückt, und von der Massenhaftigkeit der geschichtlichen Erfahrungen über- wältigt wird, dasz man insbesondere, von der Vergangenheit angezogenen und gefesselt, den frischen Blick in das Leben der Gegenwart und nach der Zukunft hin verliert. Freilich sind das keineswegs nothwendige Folgen der historischen Methode, aber die Geschichte selber zeigt uns, wie häufig Männer, die sich ihr leidenschaftlich hingegeben haben, auf derlei Abwege sich verirren.
Die Vorzüge der philosophischen Methode dagegen sind: Reinheit, Harmonie und Einheit des Systems, vollere Befriedigung des allgemeinen menschlichen Strebens nach Ver- vollkommnung, Idealität. Ihre Resultate haben einen vor- zugsweise menschlichen Charakter, ein vorzugweise ideales Gepräge. Und wieder drohen ihr eigentliche Gefahren, insbesondere dasz die Philosophen in dem Streben nach dem Einen oft als einfach gedachten Ziele die innere Mannich- faltgkeit der Natur und den reichen Inhalt des realen Daseins folgend, nicht selten statt wirkliche Gesetze zu entdecken, leere Formeln ohne Gehalt, Blase ohne Kern finden, und dem Spiele mit diesen verfallen, dasz sie, die natürliche Ent- wicklung verkennend, unreife Früchte pflücken, wurzellose Bäume in die Erde stecken und in ideologischen Irrwahn ver- sinken. Nur wenigen philosophischen Geistern ist es geglückt, sich von diesen Verirrungen frei zu erhalten.
Anmerkung. Diese und verwandte Gedanken habe ich 1841 in der Schrift: "Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen" in ihrer Beziehung auf die deutsche Wissenschaft näher ausgeführt. Zweite Auflage, Zürich, 1862. Weit früher aber hat der englische Kanzler Bacon die Gebrechen der naturrechtlichen und der positiven Juris- prudenz seiner Zeit gerügt und von der Verbindung der Geschichte mit der Philosophie die nöthige Reform der Rechtswissenschaft erwartet.
Zweites Capitel. Wissenschaftliche Methoden.
historischen Bahnen folgend, leicht über der reichen Mannich- faltigkeit der Einheit vergiszt und die Einheit verliert, dasz man von der Schwere des Stoffes niedergedrückt, und von der Massenhaftigkeit der geschichtlichen Erfahrungen über- wältigt wird, dasz man insbesondere, von der Vergangenheit angezogenen und gefesselt, den frischen Blick in das Leben der Gegenwart und nach der Zukunft hin verliert. Freilich sind das keineswegs nothwendige Folgen der historischen Methode, aber die Geschichte selber zeigt uns, wie häufig Männer, die sich ihr leidenschaftlich hingegeben haben, auf derlei Abwege sich verirren.
Die Vorzüge der philosophischen Methode dagegen sind: Reinheit, Harmonie und Einheit des Systems, vollere Befriedigung des allgemeinen menschlichen Strebens nach Ver- vollkommnung, Idealität. Ihre Resultate haben einen vor- zugsweise menschlichen Charakter, ein vorzugweise ideales Gepräge. Und wieder drohen ihr eigentliche Gefahren, insbesondere dasz die Philosophen in dem Streben nach dem Einen oft als einfach gedachten Ziele die innere Mannich- faltgkeit der Natur und den reichen Inhalt des realen Daseins folgend, nicht selten statt wirkliche Gesetze zu entdecken, leere Formeln ohne Gehalt, Blase ohne Kern finden, und dem Spiele mit diesen verfallen, dasz sie, die natürliche Ent- wicklung verkennend, unreife Früchte pflücken, wurzellose Bäume in die Erde stecken und in ideologischen Irrwahn ver- sinken. Nur wenigen philosophischen Geistern ist es geglückt, sich von diesen Verirrungen frei zu erhalten.
Anmerkung. Diese und verwandte Gedanken habe ich 1841 in der Schrift: „Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen“ in ihrer Beziehung auf die deutsche Wissenschaft näher ausgeführt. Zweite Auflage, Zürich, 1862. Weit früher aber hat der englische Kanzler Bacon die Gebrechen der naturrechtlichen und der positiven Juris- prudenz seiner Zeit gerügt und von der Verbindung der Geschichte mit der Philosophie die nöthige Reform der Rechtswissenschaft erwartet.
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Zweites Capitel. Wissenschaftliche Methoden.
historischen Bahnen folgend, leicht über der reichen Mannich-
faltigkeit der Einheit vergiszt und die Einheit verliert, dasz
man von der Schwere des Stoffes niedergedrückt, und von
der Massenhaftigkeit der geschichtlichen Erfahrungen über-
wältigt wird, dasz man insbesondere, von der Vergangenheit
angezogenen und gefesselt, den frischen Blick in das Leben der
Gegenwart und nach der Zukunft hin verliert. Freilich sind
das keineswegs nothwendige Folgen der historischen Methode,
aber die Geschichte selber zeigt uns, wie häufig Männer, die
sich ihr leidenschaftlich hingegeben haben, auf derlei Abwege
sich verirren.
Die Vorzüge der philosophischen Methode dagegen sind:
Reinheit, Harmonie und Einheit des Systems, vollere
Befriedigung des allgemeinen menschlichen Strebens nach Ver-
vollkommnung, Idealität. Ihre Resultate haben einen vor-
zugsweise menschlichen Charakter, ein vorzugweise ideales
Gepräge. Und wieder drohen ihr eigentliche Gefahren,
insbesondere dasz die Philosophen in dem Streben nach dem
Einen oft als einfach gedachten Ziele die innere Mannich-
faltgkeit der Natur und den reichen Inhalt des realen Daseins
folgend, nicht selten statt wirkliche Gesetze zu entdecken,
leere Formeln ohne Gehalt, Blase ohne Kern finden, und
dem Spiele mit diesen verfallen, dasz sie, die natürliche Ent-
wicklung verkennend, unreife Früchte pflücken, wurzellose
Bäume in die Erde stecken und in ideologischen Irrwahn ver-
sinken. Nur wenigen philosophischen Geistern ist es geglückt,
sich von diesen Verirrungen frei zu erhalten.
Anmerkung. Diese und verwandte Gedanken habe ich 1841 in
der Schrift: „Die neueren Rechtsschulen der deutschen Juristen“ in
ihrer Beziehung auf die deutsche Wissenschaft näher ausgeführt. Zweite
Auflage, Zürich, 1862. Weit früher aber hat der englische Kanzler
Bacon die Gebrechen der naturrechtlichen und der positiven Juris-
prudenz seiner Zeit gerügt und von der Verbindung der Geschichte mit
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/28>, abgerufen am 22.11.2024.
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