Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
rechte derselben waren zwar unvollkommen und hatten in der ältern Zeit einen sehr ungenügenden Schutz, es kam anfangs wesentlich nur auf den guten Willen des Herrn an, ob er dieselben achte oder nicht; aber der Keim der spätern all- mählichen und stufenweise eintretenden Befreiung der Eigenen war in den germanischen Rechten nicht ebenso zerstört, wie in dem römischen. Die Persönlichkeit des deutschen Sclaven war nie ganz verloren gegangen, und deszhalb war auch die Perfectibilität seiner Zustände nicht ausgeschlossen.
Die Aufhebung der Sclaverei in dem abendländischen Europa ist schon während des Mittelalters dadurch groszen- theils vollzogen worden, dasz dieselbe in die mildere Form der Hörigkeit überging. Ihre letzten Reste aber sind mit der endlichen Beseitigung auch der Hörigkeit erst gegen Ende des XVIII. und in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts weggeräumt worden. 6
Diese frühere allmähliche und die neue durchgreifende Befreiung darf zum Theil als eine heranreifende Frucht des Christenthums erklärt werden, dessen religiöse Ideen das posi- tive Sclavenrecht zwar nicht gewaltsam durchbrachen, aber geistig auflösten. Mit dem Glauben, dasz die Menschen alle Kinder Gottes und unter sich Brüder seien, war das Eigen- thum eines Menschen über einen andern nicht verträglich. Mehr aber noch ist sie dem germanischen Rechts- und Frei- heitsgefühl und dem fortschreitenden Geiste der Humanität zu verdanken.
Eine eigenthümliche Geschichte hatte die russische Leibeigenschaft. Es gab in Ruszland von Alters her eine per- sönliche Knechtschaft, aber noch im XVI. Jahrhunderte war die Masse der Bauern frei. In den weiten Räumen bedurften die Grundherrn zahlreicher Arbeiter, und da die Bauern noch den freien Zug hatten und der alte nomadische Wandertrieb
6 S. oben S. 190.
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
rechte derselben waren zwar unvollkommen und hatten in der ältern Zeit einen sehr ungenügenden Schutz, es kam anfangs wesentlich nur auf den guten Willen des Herrn an, ob er dieselben achte oder nicht; aber der Keim der spätern all- mählichen und stufenweise eintretenden Befreiung der Eigenen war in den germanischen Rechten nicht ebenso zerstört, wie in dem römischen. Die Persönlichkeit des deutschen Sclaven war nie ganz verloren gegangen, und deszhalb war auch die Perfectibilität seiner Zustände nicht ausgeschlossen.
Die Aufhebung der Sclaverei in dem abendländischen Europa ist schon während des Mittelalters dadurch groszen- theils vollzogen worden, dasz dieselbe in die mildere Form der Hörigkeit überging. Ihre letzten Reste aber sind mit der endlichen Beseitigung auch der Hörigkeit erst gegen Ende des XVIII. und in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts weggeräumt worden. 6
Diese frühere allmähliche und die neue durchgreifende Befreiung darf zum Theil als eine heranreifende Frucht des Christenthums erklärt werden, dessen religiöse Ideen das posi- tive Sclavenrecht zwar nicht gewaltsam durchbrachen, aber geistig auflösten. Mit dem Glauben, dasz die Menschen alle Kinder Gottes und unter sich Brüder seien, war das Eigen- thum eines Menschen über einen andern nicht verträglich. Mehr aber noch ist sie dem germanischen Rechts- und Frei- heitsgefühl und dem fortschreitenden Geiste der Humanität zu verdanken.
Eine eigenthümliche Geschichte hatte die russische Leibeigenschaft. Es gab in Ruszland von Alters her eine per- sönliche Knechtschaft, aber noch im XVI. Jahrhunderte war die Masse der Bauern frei. In den weiten Räumen bedurften die Grundherrn zahlreicher Arbeiter, und da die Bauern noch den freien Zug hatten und der alte nomadische Wandertrieb
6 S. oben S. 190.
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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
rechte derselben waren zwar unvollkommen und hatten in der
ältern Zeit einen sehr ungenügenden Schutz, es kam anfangs
wesentlich nur auf den guten Willen des Herrn an, ob er
dieselben achte oder nicht; aber der Keim der spätern all-
mählichen und stufenweise eintretenden Befreiung der Eigenen
war in den germanischen Rechten nicht ebenso zerstört, wie
in dem römischen. Die Persönlichkeit des deutschen Sclaven
war nie ganz verloren gegangen, und deszhalb war auch die
Perfectibilität seiner Zustände nicht ausgeschlossen.
Die Aufhebung der Sclaverei in dem abendländischen
Europa ist schon während des Mittelalters dadurch groszen-
theils vollzogen worden, dasz dieselbe in die mildere Form
der Hörigkeit überging. Ihre letzten Reste aber sind mit
der endlichen Beseitigung auch der Hörigkeit erst gegen Ende
des XVIII. und in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts
weggeräumt worden. 6
Diese frühere allmähliche und die neue durchgreifende
Befreiung darf zum Theil als eine heranreifende Frucht des
Christenthums erklärt werden, dessen religiöse Ideen das posi-
tive Sclavenrecht zwar nicht gewaltsam durchbrachen, aber
geistig auflösten. Mit dem Glauben, dasz die Menschen alle
Kinder Gottes und unter sich Brüder seien, war das Eigen-
thum eines Menschen über einen andern nicht verträglich.
Mehr aber noch ist sie dem germanischen Rechts- und Frei-
heitsgefühl und dem fortschreitenden Geiste der Humanität
zu verdanken.
Eine eigenthümliche Geschichte hatte die russische
Leibeigenschaft. Es gab in Ruszland von Alters her eine per-
sönliche Knechtschaft, aber noch im XVI. Jahrhunderte war
die Masse der Bauern frei. In den weiten Räumen bedurften
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6 S. oben S. 190.
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/212>, abgerufen am 24.11.2024.
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