seinem Leben, in seiner Entwicklung, sie weist auf die Ziele hin, nach denen das öffentliche Streben sich bewegt und lehrt die Wege kennen, welche zu diesen Zielen führen, sie er- wägt die Mittel, mit welchen die begehrten Zwecke zu er- langen sind, sie beobachtet die Wirkungen auch des Rechts auf die Gesammtzustände und überlegt, wie die schädlichen Wirkungen zu vermeiden, wie die Mängel der bestehenden Einrichtungen zu heben sind. Das Statsleben, die Stats- praxis, das ist die Politik.
Das Recht verhält sich also zur Politik wie die Ordnung zur Freiheit, wie die ruhige Bestimmtheit der Verhältnisse zu der mannigfaltigen Bewegung in denselben, wie der Körper zu den Handlungen desselben und zu dem Geist, der sich mannigfaltig ausspricht. Das Statsrecht prüft die Recht- mässigkeit der Zustände, die Politik prüft die Zweck- mässigkeit der Handlung.
Sowohl in dem Recht als in der Politik ist ein sitt- licher Gehalt. Der Stat ist ein sittliches Wesen und er hat sittliche Lebensaufgaben. Aber Recht und Politik werden nicht von dem Sittengesetz allein und nicht vollständig von dem Sittengesetz bestimmt. Sie sind als Wissenschaften nicht einzelne Capitel der Sittenlehre. Vielmehr haben sie ihre Grundlage im Stat und ihre Bestimmung für den Stat. Sie sind Statswissenschaften. Die Sittenlehre aber ist keine Stats- wissenschaft, weil ihre Grundgesetze nicht aus dem Stat zu erklären sind, sondern eine breitere Basis in der Menschen- natur überhaupt und eine höhere Begründung in der gött- lichen Weltordnung und der göttlichen Bestimmung des Menschengeschlechts haben.
Man darf Statsrecht und Politik nicht absolut von ein- ander trennen. Der wirkliche Stat lebt; d. h. er ist Ver- bindung von Recht und Politik. Auch das Recht ist nicht absolut ruhend, nicht unveränderlich, und die Bewegung der Politik will wieder zur Ruhe kommen. Es gibt nicht
Erstes Capitel. Die Statswissenschaft.
seinem Leben, in seiner Entwicklung, sie weist auf die Ziele hin, nach denen das öffentliche Streben sich bewegt und lehrt die Wege kennen, welche zu diesen Zielen führen, sie er- wägt die Mittel, mit welchen die begehrten Zwecke zu er- langen sind, sie beobachtet die Wirkungen auch des Rechts auf die Gesammtzustände und überlegt, wie die schädlichen Wirkungen zu vermeiden, wie die Mängel der bestehenden Einrichtungen zu heben sind. Das Statsleben, die Stats- praxis, das ist die Politik.
Das Recht verhält sich also zur Politik wie die Ordnung zur Freiheit, wie die ruhige Bestimmtheit der Verhältnisse zu der mannigfaltigen Bewegung in denselben, wie der Körper zu den Handlungen desselben und zu dem Geist, der sich mannigfaltig ausspricht. Das Statsrecht prüft die Recht- mässigkeit der Zustände, die Politik prüft die Zweck- mässigkeit der Handlung.
Sowohl in dem Recht als in der Politik ist ein sitt- licher Gehalt. Der Stat ist ein sittliches Wesen und er hat sittliche Lebensaufgaben. Aber Recht und Politik werden nicht von dem Sittengesetz allein und nicht vollständig von dem Sittengesetz bestimmt. Sie sind als Wissenschaften nicht einzelne Capitel der Sittenlehre. Vielmehr haben sie ihre Grundlage im Stat und ihre Bestimmung für den Stat. Sie sind Statswissenschaften. Die Sittenlehre aber ist keine Stats- wissenschaft, weil ihre Grundgesetze nicht aus dem Stat zu erklären sind, sondern eine breitere Basis in der Menschen- natur überhaupt und eine höhere Begründung in der gött- lichen Weltordnung und der göttlichen Bestimmung des Menschengeschlechts haben.
Man darf Statsrecht und Politik nicht absolut von ein- ander trennen. Der wirkliche Stat lebt; d. h. er ist Ver- bindung von Recht und Politik. Auch das Recht ist nicht absolut ruhend, nicht unveränderlich, und die Bewegung der Politik will wieder zur Ruhe kommen. Es gibt nicht
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Erstes Capitel. Die Statswissenschaft.
seinem Leben, in seiner Entwicklung, sie weist auf die Ziele
hin, nach denen das öffentliche Streben sich bewegt und lehrt
die Wege kennen, welche zu diesen Zielen führen, sie er-
wägt die Mittel, mit welchen die begehrten Zwecke zu er-
langen sind, sie beobachtet die Wirkungen auch des Rechts
auf die Gesammtzustände und überlegt, wie die schädlichen
Wirkungen zu vermeiden, wie die Mängel der bestehenden
Einrichtungen zu heben sind. Das Statsleben, die Stats-
praxis, das ist die Politik.
Das Recht verhält sich also zur Politik wie die Ordnung
zur Freiheit, wie die ruhige Bestimmtheit der Verhältnisse zu
der mannigfaltigen Bewegung in denselben, wie der Körper
zu den Handlungen desselben und zu dem Geist, der sich
mannigfaltig ausspricht. Das Statsrecht prüft die Recht-
mässigkeit der Zustände, die Politik prüft die Zweck-
mässigkeit der Handlung.
Sowohl in dem Recht als in der Politik ist ein sitt-
licher Gehalt. Der Stat ist ein sittliches Wesen und er hat
sittliche Lebensaufgaben. Aber Recht und Politik werden
nicht von dem Sittengesetz allein und nicht vollständig von
dem Sittengesetz bestimmt. Sie sind als Wissenschaften nicht
einzelne Capitel der Sittenlehre. Vielmehr haben sie ihre
Grundlage im Stat und ihre Bestimmung für den Stat. Sie
sind Statswissenschaften. Die Sittenlehre aber ist keine Stats-
wissenschaft, weil ihre Grundgesetze nicht aus dem Stat zu
erklären sind, sondern eine breitere Basis in der Menschen-
natur überhaupt und eine höhere Begründung in der gött-
lichen Weltordnung und der göttlichen Bestimmung des
Menschengeschlechts haben.
Man darf Statsrecht und Politik nicht absolut von ein-
ander trennen. Der wirkliche Stat lebt; d. h. er ist Ver-
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nicht absolut ruhend, nicht unveränderlich, und die Bewegung
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/21>, abgerufen am 21.11.2024.
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