Eilftes Capitel. 2. Der Adel. B. Der englische Adel.
die Sachsen, aber diese waren doch mit jenen viel näher ver- wandt. Die Eorls waren ein ursprünglicher Nationaladel der Sachsen, der vor den gemeinfreien Ceorls von altersher hervorragte. Der sächsische Adelige hatte die nämliche Er- ziehung, Lebensweise, Denkart wie der Normanne; und auch den neuen Königen gegenüber hielten sie an ihrem alten von denselben anerkannten Rechte fest. Gerade die factische Zurück- setzung aber der Sachsen stählte ihren Freiheitssinn, und hatte vorzugsweise die Wirkung, dasz dieselben um so eifersüchtiger und kräftiger ihr Recht zu wahren suchten, und dem gesamm- ten Adel jenen Geist politischer Freiheit einpflanzten, durch den England grosz geworden ist.
2. Auf der andern Seite hatte die Eroberung die grosze Wirkung, dasz die königliche Gewalt, auf welcher die Einheit und die Sicherheit des States vorzüglich beruhte, nicht wie in Frankreich durch den Adel verdrängt wurde, und nicht ebenso eine in einzelne Herrschaften zersplitterte Souveränetät der groszen Vasallen entstand.
Das Lehenswesen fand freilich, wie damals allenthalben, auch in England Eingang, aber es bildete sich doch in anderer Weise aus. Es ist zwar die früher ziemlich verbreitete Mei- nung, dasz durch die Normannen das Lehenssystem in Eng- land zuerst eingeführt worden sei, in Folge neuerer Unter- suchungen als unrichtig erwiesen; auch die alten sächsischen Thane hatten groszentheils Lehensbesitz, und waren um desz- willen den Königen zu besonderer Treue und Kriegsdienst ver- pflichtet. Aber wahr ist es, dasz die normannische Herrschaft bei weitem mehr dem ganzen State einen lehensartigen Cha- rakter und lehensmäszige Formen gab. Das Lehenswesen war zur Zeit der Eroberung in der Normandie ausgebildeter als in England, und die Sieger trugen die heimischen Vorstellungen hinüber in das neu erworbene Land.
Im Princip -- das Verständnisz der Neuerung wurde erst später allgemein, als weitere Consequenzen derselben zur
Eilftes Capitel. 2. Der Adel. B. Der englische Adel.
die Sachsen, aber diese waren doch mit jenen viel näher ver- wandt. Die Eorls waren ein ursprünglicher Nationaladel der Sachsen, der vor den gemeinfreien Ceorls von altersher hervorragte. Der sächsische Adelige hatte die nämliche Er- ziehung, Lebensweise, Denkart wie der Normanne; und auch den neuen Königen gegenüber hielten sie an ihrem alten von denselben anerkannten Rechte fest. Gerade die factische Zurück- setzung aber der Sachsen stählte ihren Freiheitssinn, und hatte vorzugsweise die Wirkung, dasz dieselben um so eifersüchtiger und kräftiger ihr Recht zu wahren suchten, und dem gesamm- ten Adel jenen Geist politischer Freiheit einpflanzten, durch den England grosz geworden ist.
2. Auf der andern Seite hatte die Eroberung die grosze Wirkung, dasz die königliche Gewalt, auf welcher die Einheit und die Sicherheit des States vorzüglich beruhte, nicht wie in Frankreich durch den Adel verdrängt wurde, und nicht ebenso eine in einzelne Herrschaften zersplitterte Souveränetät der groszen Vasallen entstand.
Das Lehenswesen fand freilich, wie damals allenthalben, auch in England Eingang, aber es bildete sich doch in anderer Weise aus. Es ist zwar die früher ziemlich verbreitete Mei- nung, dasz durch die Normannen das Lehenssystem in Eng- land zuerst eingeführt worden sei, in Folge neuerer Unter- suchungen als unrichtig erwiesen; auch die alten sächsischen Thane hatten groszentheils Lehensbesitz, und waren um desz- willen den Königen zu besonderer Treue und Kriegsdienst ver- pflichtet. Aber wahr ist es, dasz die normannische Herrschaft bei weitem mehr dem ganzen State einen lehensartigen Cha- rakter und lehensmäszige Formen gab. Das Lehenswesen war zur Zeit der Eroberung in der Normandie ausgebildeter als in England, und die Sieger trugen die heimischen Vorstellungen hinüber in das neu erworbene Land.
Im Princip — das Verständnisz der Neuerung wurde erst später allgemein, als weitere Consequenzen derselben zur
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Eilftes Capitel. 2. Der Adel. B. Der englische Adel.
die Sachsen, aber diese waren doch mit jenen viel näher ver-
wandt. Die Eorls waren ein ursprünglicher Nationaladel der
Sachsen, der vor den gemeinfreien Ceorls von altersher
hervorragte. Der sächsische Adelige hatte die nämliche Er-
ziehung, Lebensweise, Denkart wie der Normanne; und auch
den neuen Königen gegenüber hielten sie an ihrem alten von
denselben anerkannten Rechte fest. Gerade die factische Zurück-
setzung aber der Sachsen stählte ihren Freiheitssinn, und hatte
vorzugsweise die Wirkung, dasz dieselben um so eifersüchtiger
und kräftiger ihr Recht zu wahren suchten, und dem gesamm-
ten Adel jenen Geist politischer Freiheit einpflanzten,
durch den England grosz geworden ist.
2. Auf der andern Seite hatte die Eroberung die grosze
Wirkung, dasz die königliche Gewalt, auf welcher die
Einheit und die Sicherheit des States vorzüglich beruhte, nicht
wie in Frankreich durch den Adel verdrängt wurde, und nicht
ebenso eine in einzelne Herrschaften zersplitterte Souveränetät
der groszen Vasallen entstand.
Das Lehenswesen fand freilich, wie damals allenthalben,
auch in England Eingang, aber es bildete sich doch in anderer
Weise aus. Es ist zwar die früher ziemlich verbreitete Mei-
nung, dasz durch die Normannen das Lehenssystem in Eng-
land zuerst eingeführt worden sei, in Folge neuerer Unter-
suchungen als unrichtig erwiesen; auch die alten sächsischen
Thane hatten groszentheils Lehensbesitz, und waren um desz-
willen den Königen zu besonderer Treue und Kriegsdienst ver-
pflichtet. Aber wahr ist es, dasz die normannische Herrschaft
bei weitem mehr dem ganzen State einen lehensartigen Cha-
rakter und lehensmäszige Formen gab. Das Lehenswesen war
zur Zeit der Eroberung in der Normandie ausgebildeter als in
England, und die Sieger trugen die heimischen Vorstellungen
hinüber in das neu erworbene Land.
Im Princip — das Verständnisz der Neuerung wurde erst
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/173>, abgerufen am 24.11.2024.
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