Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Auch die Begriffe Nation (peuple) und Gesellschaft fallen nicht zusammen, obwohl auch zwischen ihnen eine Ver- wandtschaft ist. Der erblichen Nation gegenüber erscheint die Gesellschaft als eine dem Wechsel ausgesetzte Vereinigung von Individuen. Die Nation hat in der Sprache einen orga- nischen Ausdruck ihres Gemeingeistes geschaffen, die Gesell- schaft bedient sich der nationalen Sprache, so weit es ihr behagt, aber sie hat keine eigene Gesellschaftsprache. Die Nation kann sich in verschiedene Staten verzweigen und theilen. Wir beschränken den Begriff der Gesellschaft auf die gegenwärtigen Bewohner Eines Statsgebiets; oder wenn wir z. B. von europäischer Gesellschaft sprechen, so fassen wir die Bewohner aller civilisirten europäischen Staten zu- sammen, ungeachtet sie verschiedenen Nationen angehören. Auch innerhalb eines States beachtet der Gesellschaftsbegriff nicht die nationalen Unterschiede, sondern begreift die An- gehörigen verschiedener Nationalitäten, die in Einem State leben, in sich. In der Nation ist ein natürlicher Organis- mus, wenigstens der physischen Anlage nach, erkennbar; die Gesellschaft besteht nur aus einer Summe von Einzelmenschen.
Es ist ein Verdienst von Gneist um die Statswissen- schaft, den Gegensatz der Begriffe Stat und Gesellschaft scharf betont und auf die vielfältigen Reibungen zwischen Stat und Gesellschaft aufmerksam gemacht zu haben. Die Bezeichnung aber der heutigen Gesellschaft als Erwerbsgesellschaft, deren er sich mit Vorliebe bedient, ist augenscheinlich zu enge. Gewisz ist der Vermögenserwerb eines der verbreitet- sten und stärksten Interessen der Gesellschaft, aber durch- aus nicht das einzige und kaum das wichtigste. Die Gesell- schaft beachtet auch den Vermögensgenusz ebenso sehr wie den Vermögenserwerb. Sie schätzt überdem das Familien- leben, ganz abgesehen von allen Vermögensbeziehungen, sehr hoch. Sie legt auf die Geselligkeit einen Werth. Sie hat auch für die Cultur, die Litteratur, die Kunst offene Sinne
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Auch die Begriffe Nation (peuple) und Gesellschaft fallen nicht zusammen, obwohl auch zwischen ihnen eine Ver- wandtschaft ist. Der erblichen Nation gegenüber erscheint die Gesellschaft als eine dem Wechsel ausgesetzte Vereinigung von Individuen. Die Nation hat in der Sprache einen orga- nischen Ausdruck ihres Gemeingeistes geschaffen, die Gesell- schaft bedient sich der nationalen Sprache, so weit es ihr behagt, aber sie hat keine eigene Gesellschaftsprache. Die Nation kann sich in verschiedene Staten verzweigen und theilen. Wir beschränken den Begriff der Gesellschaft auf die gegenwärtigen Bewohner Eines Statsgebiets; oder wenn wir z. B. von europäischer Gesellschaft sprechen, so fassen wir die Bewohner aller civilisirten europäischen Staten zu- sammen, ungeachtet sie verschiedenen Nationen angehören. Auch innerhalb eines States beachtet der Gesellschaftsbegriff nicht die nationalen Unterschiede, sondern begreift die An- gehörigen verschiedener Nationalitäten, die in Einem State leben, in sich. In der Nation ist ein natürlicher Organis- mus, wenigstens der physischen Anlage nach, erkennbar; die Gesellschaft besteht nur aus einer Summe von Einzelmenschen.
Es ist ein Verdienst von Gneist um die Statswissen- schaft, den Gegensatz der Begriffe Stat und Gesellschaft scharf betont und auf die vielfältigen Reibungen zwischen Stat und Gesellschaft aufmerksam gemacht zu haben. Die Bezeichnung aber der heutigen Gesellschaft als Erwerbsgesellschaft, deren er sich mit Vorliebe bedient, ist augenscheinlich zu enge. Gewisz ist der Vermögenserwerb eines der verbreitet- sten und stärksten Interessen der Gesellschaft, aber durch- aus nicht das einzige und kaum das wichtigste. Die Gesell- schaft beachtet auch den Vermögensgenusz ebenso sehr wie den Vermögenserwerb. Sie schätzt überdem das Familien- leben, ganz abgesehen von allen Vermögensbeziehungen, sehr hoch. Sie legt auf die Geselligkeit einen Werth. Sie hat auch für die Cultur, die Litteratur, die Kunst offene Sinne
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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
Auch die Begriffe Nation (peuple) und Gesellschaft
fallen nicht zusammen, obwohl auch zwischen ihnen eine Ver-
wandtschaft ist. Der erblichen Nation gegenüber erscheint
die Gesellschaft als eine dem Wechsel ausgesetzte Vereinigung
von Individuen. Die Nation hat in der Sprache einen orga-
nischen Ausdruck ihres Gemeingeistes geschaffen, die Gesell-
schaft bedient sich der nationalen Sprache, so weit es ihr
behagt, aber sie hat keine eigene Gesellschaftsprache. Die
Nation kann sich in verschiedene Staten verzweigen und
theilen. Wir beschränken den Begriff der Gesellschaft auf
die gegenwärtigen Bewohner Eines Statsgebiets; oder wenn
wir z. B. von europäischer Gesellschaft sprechen, so fassen
wir die Bewohner aller civilisirten europäischen Staten zu-
sammen, ungeachtet sie verschiedenen Nationen angehören.
Auch innerhalb eines States beachtet der Gesellschaftsbegriff
nicht die nationalen Unterschiede, sondern begreift die An-
gehörigen verschiedener Nationalitäten, die in Einem State
leben, in sich. In der Nation ist ein natürlicher Organis-
mus, wenigstens der physischen Anlage nach, erkennbar; die
Gesellschaft besteht nur aus einer Summe von Einzelmenschen.
Es ist ein Verdienst von Gneist um die Statswissen-
schaft, den Gegensatz der Begriffe Stat und Gesellschaft scharf
betont und auf die vielfältigen Reibungen zwischen Stat und
Gesellschaft aufmerksam gemacht zu haben. Die Bezeichnung
aber der heutigen Gesellschaft als Erwerbsgesellschaft,
deren er sich mit Vorliebe bedient, ist augenscheinlich zu
enge. Gewisz ist der Vermögenserwerb eines der verbreitet-
sten und stärksten Interessen der Gesellschaft, aber durch-
aus nicht das einzige und kaum das wichtigste. Die Gesell-
schaft beachtet auch den Vermögensgenusz ebenso sehr wie
den Vermögenserwerb. Sie schätzt überdem das Familien-
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/138>, abgerufen am 24.11.2024.
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