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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
Das ist das natürliche Recht des Volkes auf zeitgemäsze
Umbildung
seiner Verfassung.

Fassen wir diesz in Einem Satze zusammen: Die natur-
gemäsze Statsform entspricht jeder Zeit der Eigen-
thümlichkeit und der Entwicklungsperiode des
Volkes, welches in dem State lebt
.

Anmerkungen. 1. Cato bei Cicero de Republ. II. 21. "Nec tem-
poris unius nec hominis est constitutio reipublicae."

2. Friedrich der Grosze von Preuszen (im Antimachiav. 12.):
"Die Charaktere der Individuen sind verschieden, und die Natur hat
dieselbe Verschiedenheit in den Charakteren (dans les temperaments)
der Staten hervorgebracht. Ich verstehe unter Charakter eines States
seine Lage, seine Ausdehnung, die Zahl und den eigenthümlichen Geist
seiner Völker, seinen Handel, seine Gewohnheiten, seine Gesetze, seine
Stärke, seine Mängel, seine Reichthümer, seine Hülfsquellen."

3. De Maistre (1796): "Eine Verfassung, welche für alle Nationen
gemacht ist, taugt für gar keine; sie ist eine leere Abstraction, ein
Werk der Schule, nur geeignet, den Geist an idealen Voraussetzungen
zu üben, und für den reinen Menschen in den eingebildeten Räumen
bestimmt, wo er allein zu finden ist" (qu'il faut adresser a l'homme
dans les espaces imaginaires ou il habite).

4. Napoleon an die Schweizer (1803): "Eine Regierungsform, die
nicht das Resultat einer langen Reihe von Begebenheiten, Unglücks-
fällen, Anstrengungen und Unternehmungen eines Volkes ist, kann nie-
mals Wurzel fassen."

5. Sismondi, Studien über die Verfassung freier Völker: "Die
Verfassung nicht minder als die Gesetze beruhen auf den Gewohnheiten
einer Nation, ihren Neigungen, Erinnerungen, auf den Bedürfnissen ihrer
Vorstellungsweise. Es ist ein unverkennbares Zeichen eines äuszerst
oberflächlichen und zugleich falschen Geistes, wenn er versucht wird,
eine neue Verfassung einem Volke nicht nach seinem eigenthümlichen
Geiste und seiner eigenen Geschichte, sondern nach einigen allgemeinen
Sätzen zu geben, welche man mit dem Namen von Principien fälschlich
ehrt. Die letzten fünfzig Jahre, welche so viele anspruchsvolle Ver-
fassungen haben entstehen sehen, und in welchen so viele Verfassungen
blosz entlehnt worden, können auch dafür Zeugnisz geben, dasz von all
diesen auch nicht eine den Erwartungen ihres Urhebers oder den Hoff-
nungen derer, welche sie angenommen, entsprochen habe."

6. L. Ranke (Zeitschr. I. 91.): "Unsre Lehre ist, dasz ein jedes
Volk seine eigene Politik habe. Was will sie doch sagen, die National-
unabhängigkeit, von der alle Gemüther durchdrungen sind? Kann sie

Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
Das ist das natürliche Recht des Volkes auf zeitgemäsze
Umbildung
seiner Verfassung.

Fassen wir diesz in Einem Satze zusammen: Die natur-
gemäsze Statsform entspricht jeder Zeit der Eigen-
thümlichkeit und der Entwicklungsperiode des
Volkes, welches in dem State lebt
.

Anmerkungen. 1. Cato bei Cicero de Republ. II. 21. „Nec tem-
poris unius nec hominis est constitutio reipublicae.“

2. Friedrich der Grosze von Preuszen (im Antimachiav. 12.):
„Die Charaktere der Individuen sind verschieden, und die Natur hat
dieselbe Verschiedenheit in den Charakteren (dans les tempéraments)
der Staten hervorgebracht. Ich verstehe unter Charakter eines States
seine Lage, seine Ausdehnung, die Zahl und den eigenthümlichen Geist
seiner Völker, seinen Handel, seine Gewohnheiten, seine Gesetze, seine
Stärke, seine Mängel, seine Reichthümer, seine Hülfsquellen.“

3. De Maistre (1796): „Eine Verfassung, welche für alle Nationen
gemacht ist, taugt für gar keine; sie ist eine leere Abstraction, ein
Werk der Schule, nur geeignet, den Geist an idealen Voraussetzungen
zu üben, und für den reinen Menschen in den eingebildeten Räumen
bestimmt, wo er allein zu finden ist“ (qu'il faut adresser à l'homme
dans les espaces imaginaires où il habite).

4. Napoleon an die Schweizer (1803): „Eine Regierungsform, die
nicht das Resultat einer langen Reihe von Begebenheiten, Unglücks-
fällen, Anstrengungen und Unternehmungen eines Volkes ist, kann nie-
mals Wurzel fassen.“

5. Sismondi, Studien über die Verfassung freier Völker: „Die
Verfassung nicht minder als die Gesetze beruhen auf den Gewohnheiten
einer Nation, ihren Neigungen, Erinnerungen, auf den Bedürfnissen ihrer
Vorstellungsweise. Es ist ein unverkennbares Zeichen eines äuszerst
oberflächlichen und zugleich falschen Geistes, wenn er versucht wird,
eine neue Verfassung einem Volke nicht nach seinem eigenthümlichen
Geiste und seiner eigenen Geschichte, sondern nach einigen allgemeinen
Sätzen zu geben, welche man mit dem Namen von Principien fälschlich
ehrt. Die letzten fünfzig Jahre, welche so viele anspruchsvolle Ver-
fassungen haben entstehen sehen, und in welchen so viele Verfassungen
blosz entlehnt worden, können auch dafür Zeugnisz geben, dasz von all
diesen auch nicht eine den Erwartungen ihres Urhebers oder den Hoff-
nungen derer, welche sie angenommen, entsprochen habe.“

6. L. Ranke (Zeitschr. I. 91.): „Unsre Lehre ist, dasz ein jedes
Volk seine eigene Politik habe. Was will sie doch sagen, die National-
unabhängigkeit, von der alle Gemüther durchdrungen sind? Kann sie

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[117/0135] Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip. Das ist das natürliche Recht des Volkes auf zeitgemäsze Umbildung seiner Verfassung. Fassen wir diesz in Einem Satze zusammen: Die natur- gemäsze Statsform entspricht jeder Zeit der Eigen- thümlichkeit und der Entwicklungsperiode des Volkes, welches in dem State lebt. Anmerkungen. 1. Cato bei Cicero de Republ. II. 21. „Nec tem- poris unius nec hominis est constitutio reipublicae.“ 2. Friedrich der Grosze von Preuszen (im Antimachiav. 12.): „Die Charaktere der Individuen sind verschieden, und die Natur hat dieselbe Verschiedenheit in den Charakteren (dans les tempéraments) der Staten hervorgebracht. Ich verstehe unter Charakter eines States seine Lage, seine Ausdehnung, die Zahl und den eigenthümlichen Geist seiner Völker, seinen Handel, seine Gewohnheiten, seine Gesetze, seine Stärke, seine Mängel, seine Reichthümer, seine Hülfsquellen.“ 3. De Maistre (1796): „Eine Verfassung, welche für alle Nationen gemacht ist, taugt für gar keine; sie ist eine leere Abstraction, ein Werk der Schule, nur geeignet, den Geist an idealen Voraussetzungen zu üben, und für den reinen Menschen in den eingebildeten Räumen bestimmt, wo er allein zu finden ist“ (qu'il faut adresser à l'homme dans les espaces imaginaires où il habite). 4. Napoleon an die Schweizer (1803): „Eine Regierungsform, die nicht das Resultat einer langen Reihe von Begebenheiten, Unglücks- fällen, Anstrengungen und Unternehmungen eines Volkes ist, kann nie- mals Wurzel fassen.“ 5. Sismondi, Studien über die Verfassung freier Völker: „Die Verfassung nicht minder als die Gesetze beruhen auf den Gewohnheiten einer Nation, ihren Neigungen, Erinnerungen, auf den Bedürfnissen ihrer Vorstellungsweise. Es ist ein unverkennbares Zeichen eines äuszerst oberflächlichen und zugleich falschen Geistes, wenn er versucht wird, eine neue Verfassung einem Volke nicht nach seinem eigenthümlichen Geiste und seiner eigenen Geschichte, sondern nach einigen allgemeinen Sätzen zu geben, welche man mit dem Namen von Principien fälschlich ehrt. Die letzten fünfzig Jahre, welche so viele anspruchsvolle Ver- fassungen haben entstehen sehen, und in welchen so viele Verfassungen blosz entlehnt worden, können auch dafür Zeugnisz geben, dasz von all diesen auch nicht eine den Erwartungen ihres Urhebers oder den Hoff- nungen derer, welche sie angenommen, entsprochen habe.“ 6. L. Ranke (Zeitschr. I. 91.): „Unsre Lehre ist, dasz ein jedes Volk seine eigene Politik habe. Was will sie doch sagen, die National- unabhängigkeit, von der alle Gemüther durchdrungen sind? Kann sie

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/135>, abgerufen am 24.11.2024.