Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
belgische Stat, gestützt auf die Wallonen und auf die fran-
zösische Bildung der Hauptstadt Brüssel, die höheren Classen
auch der vlämischen Bevölkerung zu französiren. Ebenso
unternimmt es Russland, die polnische Nation gewaltsam zu
russificiren.

Diese Nationalisirung gelingt nur da, wo die herr-
schende Nation den übrigen an Bildung, Geist und Macht
entschieden überlegen ist. An dem Widerstand der Germanen
und der Perser ist doch auch die nationalisirende Politik von
Rom und Constantinopel gescheitert.

2) Die Tendenz der verschiedenen Nationen, den Stat
zu theilen und politisch aus einander zu gehen.
Die Repealbewegung der Iren gegen den englischen Stat, die
Lostrennung der Lombarden und der Venetianer von Oester-
reich, die Verfassungskämpfe in Oesterreich überhaupt, der
erneuerte Dualismus von Oesterreich und Ungarn, aber auch
der Streit zwischen Magyaren und Slaven, Deutschen und
Czechen offenbaren die zähe Kraft dieser Richtung.

3) Ihr entgegen zeigt sich ferner die Absicht des States,
die verschiedenen Nationen zusammen zu halten, ohne
sie zu Gunsten Einer Nationalität umzubilden. Dann aber
musz der Stat darauf verzichten, ein specifisch-nationaler zu
sein. Er verhält sich dann in nationaler Beziehung als neu-
tral
oder vielmehr als gemeinsam. Er läszt jede Nation
in seinem Innern, soweit ihre Culturinteressen in Frage sind,
völlig frei gewähren und betrachtet sie alle als gleichbe-
rechtigt
. Soweit die Politik zu bestimmen ist, vermeidet
er die nationale Einseitigkeit und bestimmt dieselbe lediglich
nach gemeinsamen politischen, nicht nach besonderen
nationalen Motiven.

Das ist die Methode, durch welche es früher der Schweiz
gelungen ist, das schwierige Problem des Nebeneinander ver-
schiedener Nationalitäten zu lösen und dieselben zu befrie-
digen, ohne die Einheit des States zu gefährden. In dem

Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
belgische Stat, gestützt auf die Wallonen und auf die fran-
zösische Bildung der Hauptstadt Brüssel, die höheren Classen
auch der vlämischen Bevölkerung zu französiren. Ebenso
unternimmt es Russland, die polnische Nation gewaltsam zu
russificiren.

Diese Nationalisirung gelingt nur da, wo die herr-
schende Nation den übrigen an Bildung, Geist und Macht
entschieden überlegen ist. An dem Widerstand der Germanen
und der Perser ist doch auch die nationalisirende Politik von
Rom und Constantinopel gescheitert.

2) Die Tendenz der verschiedenen Nationen, den Stat
zu theilen und politisch aus einander zu gehen.
Die Repealbewegung der Iren gegen den englischen Stat, die
Lostrennung der Lombarden und der Venetianer von Oester-
reich, die Verfassungskämpfe in Oesterreich überhaupt, der
erneuerte Dualismus von Oesterreich und Ungarn, aber auch
der Streit zwischen Magyaren und Slaven, Deutschen und
Czechen offenbaren die zähe Kraft dieser Richtung.

3) Ihr entgegen zeigt sich ferner die Absicht des States,
die verschiedenen Nationen zusammen zu halten, ohne
sie zu Gunsten Einer Nationalität umzubilden. Dann aber
musz der Stat darauf verzichten, ein specifisch-nationaler zu
sein. Er verhält sich dann in nationaler Beziehung als neu-
tral
oder vielmehr als gemeinsam. Er läszt jede Nation
in seinem Innern, soweit ihre Culturinteressen in Frage sind,
völlig frei gewähren und betrachtet sie alle als gleichbe-
rechtigt
. Soweit die Politik zu bestimmen ist, vermeidet
er die nationale Einseitigkeit und bestimmt dieselbe lediglich
nach gemeinsamen politischen, nicht nach besonderen
nationalen Motiven.

Das ist die Methode, durch welche es früher der Schweiz
gelungen ist, das schwierige Problem des Nebeneinander ver-
schiedener Nationalitäten zu lösen und dieselben zu befrie-
digen, ohne die Einheit des States zu gefährden. In dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0127" n="109"/><fw place="top" type="header">Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.</fw><lb/>
belgische Stat, gestützt auf die Wallonen und auf die fran-<lb/>
zösische Bildung der Hauptstadt Brüssel, die höheren Classen<lb/>
auch der vlämischen Bevölkerung zu <hi rendition="#g">französiren</hi>. Ebenso<lb/>
unternimmt es Russland, die polnische Nation gewaltsam zu<lb/><hi rendition="#g">russificiren</hi>.</p><lb/>
          <p>Diese <hi rendition="#g">Nationalisirung</hi> gelingt nur da, wo die herr-<lb/>
schende Nation den übrigen an Bildung, Geist und Macht<lb/>
entschieden überlegen ist. An dem Widerstand der Germanen<lb/>
und der Perser ist doch auch die nationalisirende Politik von<lb/>
Rom und Constantinopel gescheitert.</p><lb/>
          <p>2) Die Tendenz der verschiedenen <hi rendition="#g">Nationen</hi>, den <hi rendition="#g">Stat</hi><lb/>
zu <hi rendition="#g">theilen</hi> und <hi rendition="#g">politisch aus einander zu gehen</hi>.<lb/>
Die Repealbewegung der Iren gegen den englischen Stat, die<lb/>
Lostrennung der Lombarden und der Venetianer von Oester-<lb/>
reich, die Verfassungskämpfe in Oesterreich überhaupt, der<lb/>
erneuerte Dualismus von Oesterreich und Ungarn, aber auch<lb/>
der Streit zwischen Magyaren und Slaven, Deutschen und<lb/>
Czechen offenbaren die zähe Kraft dieser Richtung.</p><lb/>
          <p>3) Ihr entgegen zeigt sich ferner die Absicht des <hi rendition="#g">States</hi>,<lb/>
die verschiedenen Nationen <hi rendition="#g">zusammen zu halten</hi>, ohne<lb/>
sie zu Gunsten Einer Nationalität umzubilden. Dann aber<lb/>
musz der Stat darauf verzichten, ein specifisch-nationaler zu<lb/>
sein. Er verhält sich dann in nationaler Beziehung als <hi rendition="#g">neu-<lb/>
tral</hi> oder vielmehr als <hi rendition="#g">gemeinsam</hi>. Er läszt jede Nation<lb/>
in seinem Innern, soweit ihre Culturinteressen in Frage sind,<lb/>
völlig frei gewähren und betrachtet sie alle als <hi rendition="#g">gleichbe-<lb/>
rechtigt</hi>. Soweit die Politik zu bestimmen ist, vermeidet<lb/>
er die nationale Einseitigkeit und bestimmt dieselbe lediglich<lb/>
nach <hi rendition="#g">gemeinsamen politischen</hi>, nicht nach besonderen<lb/>
nationalen Motiven.</p><lb/>
          <p>Das ist die Methode, durch welche es früher der <hi rendition="#g">Schweiz</hi><lb/>
gelungen ist, das schwierige Problem des Nebeneinander ver-<lb/>
schiedener Nationalitäten zu lösen und dieselben zu befrie-<lb/>
digen, ohne die Einheit des States zu gefährden. In dem<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[109/0127] Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip. belgische Stat, gestützt auf die Wallonen und auf die fran- zösische Bildung der Hauptstadt Brüssel, die höheren Classen auch der vlämischen Bevölkerung zu französiren. Ebenso unternimmt es Russland, die polnische Nation gewaltsam zu russificiren. Diese Nationalisirung gelingt nur da, wo die herr- schende Nation den übrigen an Bildung, Geist und Macht entschieden überlegen ist. An dem Widerstand der Germanen und der Perser ist doch auch die nationalisirende Politik von Rom und Constantinopel gescheitert. 2) Die Tendenz der verschiedenen Nationen, den Stat zu theilen und politisch aus einander zu gehen. Die Repealbewegung der Iren gegen den englischen Stat, die Lostrennung der Lombarden und der Venetianer von Oester- reich, die Verfassungskämpfe in Oesterreich überhaupt, der erneuerte Dualismus von Oesterreich und Ungarn, aber auch der Streit zwischen Magyaren und Slaven, Deutschen und Czechen offenbaren die zähe Kraft dieser Richtung. 3) Ihr entgegen zeigt sich ferner die Absicht des States, die verschiedenen Nationen zusammen zu halten, ohne sie zu Gunsten Einer Nationalität umzubilden. Dann aber musz der Stat darauf verzichten, ein specifisch-nationaler zu sein. Er verhält sich dann in nationaler Beziehung als neu- tral oder vielmehr als gemeinsam. Er läszt jede Nation in seinem Innern, soweit ihre Culturinteressen in Frage sind, völlig frei gewähren und betrachtet sie alle als gleichbe- rechtigt. Soweit die Politik zu bestimmen ist, vermeidet er die nationale Einseitigkeit und bestimmt dieselbe lediglich nach gemeinsamen politischen, nicht nach besonderen nationalen Motiven. Das ist die Methode, durch welche es früher der Schweiz gelungen ist, das schwierige Problem des Nebeneinander ver- schiedener Nationalitäten zu lösen und dieselben zu befrie- digen, ohne die Einheit des States zu gefährden. In dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/127
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/127>, abgerufen am 25.11.2024.