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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
nationalen Gedankens, welcher die zerstreuten Gliedmaszen
der Einen Nation sammelte und zu einem Statskörper organi-
sirte. Die Macht dieses nationalen Strebens ist unläugbar;
über den Umfang seines Rechts mag man noch streiten.

Die Beziehung der Nationalität zum State ist offenbar
enger und stärker als die zur Kirche, welche leichter einen
universellen Charakter bewahrt. Denn der Stat erscheint
als die Organisation eines Volks, und die Völker erhalten
ihren Charakter und Geist vornehmlich von den Nationen,
welche im State leben. Zwischen den Begriffen Nation und
Volk zeigt sich daher eine natürliche Verwandtschaft
und eine stetige Wechselwirkung.

Zunächst freilich ist die Nation nur Cultur- und nicht
Statsgemeinschaft. Aber wenn sie sich ihrer Geistesgemein-
schaft recht lebendig bewuszt wird, dann liegt der Gedanke
und das Verlangen nahe, dasz sie diese Gemeinschaft auch
zu voller Persönlichkeit ausbilde, dasz sie auch einen ge-
meinsamen Willen hervorbringe und ihren Willen machtvoll
bethätige, d. h. dasz sie den Stat bestimme oder zum State
werde
.

Das ist die Begründung des politischen Nationali-
tätsprincips
, wie dasselbe heute sich geltend macht. Das-
selbe begnügt sich nicht mehr damit, dasz der Stat die natio-
nale Sprache, Sitte und Cultur schütze, sondern es verlangt,
dasz der Stat selber zum Nationalstat werde. In seiner ab-
soluten Fassung bedeutet es: "Jede Nation ist berufen und
berechtigt, einen Stat zu bilden. Wie die Menschheit in eine
Anzahl von Nationen getheilt ist, so soll die Welt in eben
so viele Staten zerlegt werden. Jede Nation Ein Stat.
Jeder Stat ein nationales Wesen." Ist dieser Ge-
danke wahr?

Ueberschauen wir vorerst die hauptsächlichsten vorhan-
denen Gegensätze zwischen dem Umfang der Nation und der
Ausdehnung des States.


Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
nationalen Gedankens, welcher die zerstreuten Gliedmaszen
der Einen Nation sammelte und zu einem Statskörper organi-
sirte. Die Macht dieses nationalen Strebens ist unläugbar;
über den Umfang seines Rechts mag man noch streiten.

Die Beziehung der Nationalität zum State ist offenbar
enger und stärker als die zur Kirche, welche leichter einen
universellen Charakter bewahrt. Denn der Stat erscheint
als die Organisation eines Volks, und die Völker erhalten
ihren Charakter und Geist vornehmlich von den Nationen,
welche im State leben. Zwischen den Begriffen Nation und
Volk zeigt sich daher eine natürliche Verwandtschaft
und eine stetige Wechselwirkung.

Zunächst freilich ist die Nation nur Cultur- und nicht
Statsgemeinschaft. Aber wenn sie sich ihrer Geistesgemein-
schaft recht lebendig bewuszt wird, dann liegt der Gedanke
und das Verlangen nahe, dasz sie diese Gemeinschaft auch
zu voller Persönlichkeit ausbilde, dasz sie auch einen ge-
meinsamen Willen hervorbringe und ihren Willen machtvoll
bethätige, d. h. dasz sie den Stat bestimme oder zum State
werde
.

Das ist die Begründung des politischen Nationali-
tätsprincips
, wie dasselbe heute sich geltend macht. Das-
selbe begnügt sich nicht mehr damit, dasz der Stat die natio-
nale Sprache, Sitte und Cultur schütze, sondern es verlangt,
dasz der Stat selber zum Nationalstat werde. In seiner ab-
soluten Fassung bedeutet es: „Jede Nation ist berufen und
berechtigt, einen Stat zu bilden. Wie die Menschheit in eine
Anzahl von Nationen getheilt ist, so soll die Welt in eben
so viele Staten zerlegt werden. Jede Nation Ein Stat.
Jeder Stat ein nationales Wesen.“ Ist dieser Ge-
danke wahr?

Ueberschauen wir vorerst die hauptsächlichsten vorhan-
denen Gegensätze zwischen dem Umfang der Nation und der
Ausdehnung des States.


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[107/0125] Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip. nationalen Gedankens, welcher die zerstreuten Gliedmaszen der Einen Nation sammelte und zu einem Statskörper organi- sirte. Die Macht dieses nationalen Strebens ist unläugbar; über den Umfang seines Rechts mag man noch streiten. Die Beziehung der Nationalität zum State ist offenbar enger und stärker als die zur Kirche, welche leichter einen universellen Charakter bewahrt. Denn der Stat erscheint als die Organisation eines Volks, und die Völker erhalten ihren Charakter und Geist vornehmlich von den Nationen, welche im State leben. Zwischen den Begriffen Nation und Volk zeigt sich daher eine natürliche Verwandtschaft und eine stetige Wechselwirkung. Zunächst freilich ist die Nation nur Cultur- und nicht Statsgemeinschaft. Aber wenn sie sich ihrer Geistesgemein- schaft recht lebendig bewuszt wird, dann liegt der Gedanke und das Verlangen nahe, dasz sie diese Gemeinschaft auch zu voller Persönlichkeit ausbilde, dasz sie auch einen ge- meinsamen Willen hervorbringe und ihren Willen machtvoll bethätige, d. h. dasz sie den Stat bestimme oder zum State werde. Das ist die Begründung des politischen Nationali- tätsprincips, wie dasselbe heute sich geltend macht. Das- selbe begnügt sich nicht mehr damit, dasz der Stat die natio- nale Sprache, Sitte und Cultur schütze, sondern es verlangt, dasz der Stat selber zum Nationalstat werde. In seiner ab- soluten Fassung bedeutet es: „Jede Nation ist berufen und berechtigt, einen Stat zu bilden. Wie die Menschheit in eine Anzahl von Nationen getheilt ist, so soll die Welt in eben so viele Staten zerlegt werden. Jede Nation Ein Stat. Jeder Stat ein nationales Wesen.“ Ist dieser Ge- danke wahr? Ueberschauen wir vorerst die hauptsächlichsten vorhan- denen Gegensätze zwischen dem Umfang der Nation und der Ausdehnung des States.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/125>, abgerufen am 25.11.2024.