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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
erlegen. Dennoch war auch damals das nationale Bewusztsein
nur wenig entwickelt. Die nationalen Gefühle wirkten wohl
unbewuszt in den Massen und begeisterten diese zum Kampf,
aber der Nationalgeist war noch nicht erwacht. Sogar die
ausdauernde und hartnäckige Feindschaft der Engländer
wider die Franzosen hatte nicht darin ihren Grund, dasz jene
die Freiheit der Nationen vor dem französischen Drucke retten
wollten, sondern weit mehr in dem Hasz der englischen Aristo-
kratie wider die französische Revolution, in der Besorgnisz
vor der Uebermacht Frankreichs in Europa, in den bedrohten
Handelsinteressen. Das englische Statsbewusztsein ist freilich
gehoben durch den männlichen Stolz und den freien Rechts-
sinn der angelsächsischen Rasse und der englischen Nationa-
lität. Aber trotzdem sind die Engländer misztrauisch gegen
das Nationalitätsprincip als Statsprincip. Sie wissen, dasz ihr
europäisches Inselreich verschiedene Nationen zusammenhält
und dasz insbesondere das aufgeregte Nationalgefühl der kelti-
schen Iren schon mehr als einmal an dem englischen Stats-
verband gerüttelt hat. Ihre Weltherrschaft in Ostindien und
in andern überseeischen Ländern wird nicht minder durch
eine scharfe Betonung jenes Princips in Frage gestellt. Auch
die Spanier fühlten sich in ihrem Kampfe wider die Fran-
zosen als eine eigenartige Nation und haszten diese als Fremde.
Aber sie betrachteten den Krieg doch weniger als einen natio-
nalen, sondern vielmehr als einen Kampf für ihren legitimen
König und für ihre katholische Religion wider die teuflischen
Revolutionäre. Den Deutschen war das politische National-
gefühl schon seit Jahrhunderten durch die confessionelle Zwie-
tracht und durch die Zerbröckelung des Reiches in selbstän-
dige dynastisch regierte Länder abhanden gekommen und nur
eine Anzahl Gebildeter hörte auf die begeisternden Reden
von Fichte und die Schriften von Arndt, welche das deutsche
Nationalbewusztsein wieder zu wecken suchten. Die Russen
gingen für ihren Kaiser und sein heiliges orthodoxes Reich

Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip.
erlegen. Dennoch war auch damals das nationale Bewusztsein
nur wenig entwickelt. Die nationalen Gefühle wirkten wohl
unbewuszt in den Massen und begeisterten diese zum Kampf,
aber der Nationalgeist war noch nicht erwacht. Sogar die
ausdauernde und hartnäckige Feindschaft der Engländer
wider die Franzosen hatte nicht darin ihren Grund, dasz jene
die Freiheit der Nationen vor dem französischen Drucke retten
wollten, sondern weit mehr in dem Hasz der englischen Aristo-
kratie wider die französische Revolution, in der Besorgnisz
vor der Uebermacht Frankreichs in Europa, in den bedrohten
Handelsinteressen. Das englische Statsbewusztsein ist freilich
gehoben durch den männlichen Stolz und den freien Rechts-
sinn der angelsächsischen Rasse und der englischen Nationa-
lität. Aber trotzdem sind die Engländer misztrauisch gegen
das Nationalitätsprincip als Statsprincip. Sie wissen, dasz ihr
europäisches Inselreich verschiedene Nationen zusammenhält
und dasz insbesondere das aufgeregte Nationalgefühl der kelti-
schen Iren schon mehr als einmal an dem englischen Stats-
verband gerüttelt hat. Ihre Weltherrschaft in Ostindien und
in andern überseeischen Ländern wird nicht minder durch
eine scharfe Betonung jenes Princips in Frage gestellt. Auch
die Spanier fühlten sich in ihrem Kampfe wider die Fran-
zosen als eine eigenartige Nation und haszten diese als Fremde.
Aber sie betrachteten den Krieg doch weniger als einen natio-
nalen, sondern vielmehr als einen Kampf für ihren legitimen
König und für ihre katholische Religion wider die teuflischen
Revolutionäre. Den Deutschen war das politische National-
gefühl schon seit Jahrhunderten durch die confessionelle Zwie-
tracht und durch die Zerbröckelung des Reiches in selbstän-
dige dynastisch regierte Länder abhanden gekommen und nur
eine Anzahl Gebildeter hörte auf die begeisternden Reden
von Fichte und die Schriften von Arndt, welche das deutsche
Nationalbewusztsein wieder zu wecken suchten. Die Russen
gingen für ihren Kaiser und sein heiliges orthodoxes Reich

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[105/0123] Viertes Capitel. Die nationale Statenbildung und das Nationalitätsprincip. erlegen. Dennoch war auch damals das nationale Bewusztsein nur wenig entwickelt. Die nationalen Gefühle wirkten wohl unbewuszt in den Massen und begeisterten diese zum Kampf, aber der Nationalgeist war noch nicht erwacht. Sogar die ausdauernde und hartnäckige Feindschaft der Engländer wider die Franzosen hatte nicht darin ihren Grund, dasz jene die Freiheit der Nationen vor dem französischen Drucke retten wollten, sondern weit mehr in dem Hasz der englischen Aristo- kratie wider die französische Revolution, in der Besorgnisz vor der Uebermacht Frankreichs in Europa, in den bedrohten Handelsinteressen. Das englische Statsbewusztsein ist freilich gehoben durch den männlichen Stolz und den freien Rechts- sinn der angelsächsischen Rasse und der englischen Nationa- lität. Aber trotzdem sind die Engländer misztrauisch gegen das Nationalitätsprincip als Statsprincip. Sie wissen, dasz ihr europäisches Inselreich verschiedene Nationen zusammenhält und dasz insbesondere das aufgeregte Nationalgefühl der kelti- schen Iren schon mehr als einmal an dem englischen Stats- verband gerüttelt hat. Ihre Weltherrschaft in Ostindien und in andern überseeischen Ländern wird nicht minder durch eine scharfe Betonung jenes Princips in Frage gestellt. Auch die Spanier fühlten sich in ihrem Kampfe wider die Fran- zosen als eine eigenartige Nation und haszten diese als Fremde. Aber sie betrachteten den Krieg doch weniger als einen natio- nalen, sondern vielmehr als einen Kampf für ihren legitimen König und für ihre katholische Religion wider die teuflischen Revolutionäre. Den Deutschen war das politische National- gefühl schon seit Jahrhunderten durch die confessionelle Zwie- tracht und durch die Zerbröckelung des Reiches in selbstän- dige dynastisch regierte Länder abhanden gekommen und nur eine Anzahl Gebildeter hörte auf die begeisternden Reden von Fichte und die Schriften von Arndt, welche das deutsche Nationalbewusztsein wieder zu wecken suchten. Die Russen gingen für ihren Kaiser und sein heiliges orthodoxes Reich

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/123>, abgerufen am 25.11.2024.