Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
schaft entschiedener ausgebildet und zu politischer Theil- nahme an der Statsleitung gesteigert ist, und seine Fähig- keit, einen Gesammtwillen auszusprechen und durch Thaten zu bewähren, durch die Statsverfassung die erfor- derlichen Organe erworben hat, mit Einem Worte, dasz es eine rechtliche und statliche Gesammtperson ist.
Mit vollem Rechte spricht man daher von einem Volks- geiste und von einem Volkswillen, der etwas anderes ist als die blosze Summe des Geistes und des Willens aller zum Volk gehörigen Individuen. Jener Geist und Wille ist seinen Organen und seinem Inhalte nach einheitlicher Gemeingeist und Statswillen, nicht individueller und mannigfaltig sich widersprechender Einzelngeist und Einzelnwille.
Auch die Völker sind organische Wesen; und desz- halb stehen sie unter den Naturgesetzen alles organischen Lebens. In der Entwicklungsgeschichte der Völker lassen sich dieselben Altersperioden unterscheiden, wie in dem Leben der Individuen. Die natürlichen Kräfte und Anlagen eines Volkes, seine Vorstellungen, seine Bedürfnisse sind anders in der Zeit seiner Kindheit, und anders in der Zeit seines Alters. Wie für den einzelnen Menschen, so ist auch für das Volk die mittlere Periode seines Lebens regelmäszig die Zeit der höch- sten Entwicklung seines Geistes und seiner Macht. Nur sind diese Perioden bei den Völkern nach Jahrhunderten zu be- messen, während sie bei den Individuen nach Jahrzehnten sich unterscheiden. Unsterblichkeit aber scheint auch den Völkern nicht verliehen zu sein.
Anmerkungen. 1. Es ist ein Verdienst Savigny's, die Bedeu- tung des Volkes als eines organischen Wesens und den Einflusz seiner Lebensalter auf die Rechtsbildung in Deutschland wieder nachdrucksam hervorgehoben zu haben.
2. Die Familienverbindung ferner für sich allein erzeugt weder eine Nation noch ein Volk, und der Satz Schleiermachers: "Wenn eine Masse von Familien unter sich verbunden und von andern ausgeschlossen ist durch Connubium, so stellt sich die Volkseinheit dar," wird in zwie-
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
schaft entschiedener ausgebildet und zu politischer Theil- nahme an der Statsleitung gesteigert ist, und seine Fähig- keit, einen Gesammtwillen auszusprechen und durch Thaten zu bewähren, durch die Statsverfassung die erfor- derlichen Organe erworben hat, mit Einem Worte, dasz es eine rechtliche und statliche Gesammtperson ist.
Mit vollem Rechte spricht man daher von einem Volks- geiste und von einem Volkswillen, der etwas anderes ist als die blosze Summe des Geistes und des Willens aller zum Volk gehörigen Individuen. Jener Geist und Wille ist seinen Organen und seinem Inhalte nach einheitlicher Gemeingeist und Statswillen, nicht individueller und mannigfaltig sich widersprechender Einzelngeist und Einzelnwille.
Auch die Völker sind organische Wesen; und desz- halb stehen sie unter den Naturgesetzen alles organischen Lebens. In der Entwicklungsgeschichte der Völker lassen sich dieselben Altersperioden unterscheiden, wie in dem Leben der Individuen. Die natürlichen Kräfte und Anlagen eines Volkes, seine Vorstellungen, seine Bedürfnisse sind anders in der Zeit seiner Kindheit, und anders in der Zeit seines Alters. Wie für den einzelnen Menschen, so ist auch für das Volk die mittlere Periode seines Lebens regelmäszig die Zeit der höch- sten Entwicklung seines Geistes und seiner Macht. Nur sind diese Perioden bei den Völkern nach Jahrhunderten zu be- messen, während sie bei den Individuen nach Jahrzehnten sich unterscheiden. Unsterblichkeit aber scheint auch den Völkern nicht verliehen zu sein.
Anmerkungen. 1. Es ist ein Verdienst Savigny's, die Bedeu- tung des Volkes als eines organischen Wesens und den Einflusz seiner Lebensalter auf die Rechtsbildung in Deutschland wieder nachdrucksam hervorgehoben zu haben.
2. Die Familienverbindung ferner für sich allein erzeugt weder eine Nation noch ein Volk, und der Satz Schleiermachers: „Wenn eine Masse von Familien unter sich verbunden und von andern ausgeschlossen ist durch Connubium, so stellt sich die Volkseinheit dar,“ wird in zwie-
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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen- u. Volksnatur.
schaft entschiedener ausgebildet und zu politischer Theil-
nahme an der Statsleitung gesteigert ist, und seine Fähig-
keit, einen Gesammtwillen auszusprechen und durch
Thaten zu bewähren, durch die Statsverfassung die erfor-
derlichen Organe erworben hat, mit Einem Worte, dasz es
eine rechtliche und statliche Gesammtperson ist.
Mit vollem Rechte spricht man daher von einem Volks-
geiste und von einem Volkswillen, der etwas anderes ist
als die blosze Summe des Geistes und des Willens aller zum
Volk gehörigen Individuen. Jener Geist und Wille ist seinen
Organen und seinem Inhalte nach einheitlicher Gemeingeist
und Statswillen, nicht individueller und mannigfaltig sich
widersprechender Einzelngeist und Einzelnwille.
Auch die Völker sind organische Wesen; und desz-
halb stehen sie unter den Naturgesetzen alles organischen
Lebens. In der Entwicklungsgeschichte der Völker lassen sich
dieselben Altersperioden unterscheiden, wie in dem Leben der
Individuen. Die natürlichen Kräfte und Anlagen eines Volkes,
seine Vorstellungen, seine Bedürfnisse sind anders in der Zeit
seiner Kindheit, und anders in der Zeit seines Alters. Wie
für den einzelnen Menschen, so ist auch für das Volk die
mittlere Periode seines Lebens regelmäszig die Zeit der höch-
sten Entwicklung seines Geistes und seiner Macht. Nur sind
diese Perioden bei den Völkern nach Jahrhunderten zu be-
messen, während sie bei den Individuen nach Jahrzehnten sich
unterscheiden. Unsterblichkeit aber scheint auch den Völkern
nicht verliehen zu sein.
Anmerkungen. 1. Es ist ein Verdienst Savigny's, die Bedeu-
tung des Volkes als eines organischen Wesens und den Einflusz seiner
Lebensalter auf die Rechtsbildung in Deutschland wieder nachdrucksam
hervorgehoben zu haben.
2. Die Familienverbindung ferner für sich allein erzeugt weder
eine Nation noch ein Volk, und der Satz Schleiermachers: „Wenn eine
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/116>, abgerufen am 28.11.2024.
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