Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
die Wörter Volk und populus weisen eher auf das öffentliche
Gemeinwesen (polis, res publica) hin.

Demgemäsz waren die Deutschen im Mittelalter zugleich
eine Nation und ein Volk und in den letzten Jahrhunderten
wohl eine grosze in vielerlei Staten und Länder, beziehungs-
weise Völker zertheilte Nation, aber es gab kein deutsches
Volk mehr. Heute ist das deutsche Volk wieder erstanden,
aber auszerdem sind noch einzelne Theile der deutschen
Nation Bestandtheile auszerdeutscher Völker und Staten. Ob-
wohl das nationale Bewusztsein in unserer Zeit stärker ist,
als in irgend einer früheren Periode, so decken sich auch
heute noch die Begriffe Nation und Volk nirgends völlig.
Der Umfang und die Grenzen beider sind nicht dieselben.

Die Nationen und die Völker sind Bildungen der Ge-
schichte
. Die Entstehung einer Nation volizieht sich lang-
sam, durch einen psychologischen Procesz, welcher all-
mählich in einer Masse Menschen eine unterscheidende Da-
seinsform und Lebensgemeinschaft hervorbringt und in der
erblichen Rasse befestigt. Niemals ist aus einer willkürlich
zusammen gerotteten oder geworbenen Menge Menschen eine
Nation entstanden. Auch die freie Willensübereinkunft und
der gesellschaftliche Vertrag von vielen Individuen vermag
nicht, eine Nation zu schaffen. Zu ihrer Bildung müssen die
Erlebnisse und Schicksale von mehreren Generationen zu-
sammen wirken, und sie hat erst dann Bestand gewonnen,
wenn ihre Eigenart durch die Fortpflanzung der Familien
und die Ueberlieferung der Cultur von Geschlecht zu Ge-
schlecht erblich geworden ist.

Die Entstehung eines Volkes setzt einen politischen
Procesz, eine Statenbildung voraus, und kann daher, am
sichersten freilich auf nationaler Grundlage, auch rasch durch
eine neue Organisation vollzogen werden.

Bei der Bildung der Nationen wirken durchweg mehrere
Kräfte und Factoren zusammen, welche geeignet sind, die

Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
die Wörter Volk und populus weisen eher auf das öffentliche
Gemeinwesen (πόλις, res publica) hin.

Demgemäsz waren die Deutschen im Mittelalter zugleich
eine Nation und ein Volk und in den letzten Jahrhunderten
wohl eine grosze in vielerlei Staten und Länder, beziehungs-
weise Völker zertheilte Nation, aber es gab kein deutsches
Volk mehr. Heute ist das deutsche Volk wieder erstanden,
aber auszerdem sind noch einzelne Theile der deutschen
Nation Bestandtheile auszerdeutscher Völker und Staten. Ob-
wohl das nationale Bewusztsein in unserer Zeit stärker ist,
als in irgend einer früheren Periode, so decken sich auch
heute noch die Begriffe Nation und Volk nirgends völlig.
Der Umfang und die Grenzen beider sind nicht dieselben.

Die Nationen und die Völker sind Bildungen der Ge-
schichte
. Die Entstehung einer Nation volizieht sich lang-
sam, durch einen psychologischen Procesz, welcher all-
mählich in einer Masse Menschen eine unterscheidende Da-
seinsform und Lebensgemeinschaft hervorbringt und in der
erblichen Rasse befestigt. Niemals ist aus einer willkürlich
zusammen gerotteten oder geworbenen Menge Menschen eine
Nation entstanden. Auch die freie Willensübereinkunft und
der gesellschaftliche Vertrag von vielen Individuen vermag
nicht, eine Nation zu schaffen. Zu ihrer Bildung müssen die
Erlebnisse und Schicksale von mehreren Generationen zu-
sammen wirken, und sie hat erst dann Bestand gewonnen,
wenn ihre Eigenart durch die Fortpflanzung der Familien
und die Ueberlieferung der Cultur von Geschlecht zu Ge-
schlecht erblich geworden ist.

Die Entstehung eines Volkes setzt einen politischen
Procesz, eine Statenbildung voraus, und kann daher, am
sichersten freilich auf nationaler Grundlage, auch rasch durch
eine neue Organisation vollzogen werden.

Bei der Bildung der Nationen wirken durchweg mehrere
Kräfte und Factoren zusammen, welche geeignet sind, die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0110" n="92"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.</fw><lb/>
die Wörter Volk und populus weisen eher auf das öffentliche<lb/>
Gemeinwesen (&#x03C0;&#x03CC;&#x03BB;&#x03B9;&#x03C2;, res publica) hin.</p><lb/>
          <p>Demgemäsz waren die Deutschen im Mittelalter zugleich<lb/>
eine Nation und ein Volk und in den letzten Jahrhunderten<lb/>
wohl eine grosze in vielerlei Staten und Länder, beziehungs-<lb/>
weise Völker zertheilte Nation, aber es gab kein deutsches<lb/>
Volk mehr. Heute ist das deutsche Volk wieder erstanden,<lb/>
aber auszerdem sind noch einzelne Theile der deutschen<lb/>
Nation Bestandtheile auszerdeutscher Völker und Staten. Ob-<lb/>
wohl das nationale Bewusztsein in unserer Zeit stärker ist,<lb/>
als in irgend einer früheren Periode, so decken sich auch<lb/>
heute noch die Begriffe Nation und Volk nirgends völlig.<lb/>
Der Umfang und die Grenzen beider sind nicht dieselben.</p><lb/>
          <p>Die Nationen und die Völker sind Bildungen der <hi rendition="#g">Ge-<lb/>
schichte</hi>. Die Entstehung einer Nation volizieht sich lang-<lb/>
sam, durch einen <hi rendition="#g">psychologischen</hi> Procesz, welcher all-<lb/>
mählich in einer Masse Menschen eine unterscheidende Da-<lb/>
seinsform und Lebensgemeinschaft hervorbringt und in der<lb/>
erblichen Rasse befestigt. Niemals ist aus einer willkürlich<lb/>
zusammen gerotteten oder geworbenen Menge Menschen eine<lb/>
Nation entstanden. Auch die freie Willensübereinkunft und<lb/>
der gesellschaftliche Vertrag von vielen Individuen vermag<lb/>
nicht, eine Nation zu schaffen. Zu ihrer Bildung müssen die<lb/>
Erlebnisse und Schicksale von mehreren Generationen zu-<lb/>
sammen wirken, und sie hat erst dann Bestand gewonnen,<lb/>
wenn ihre Eigenart durch die Fortpflanzung der Familien<lb/>
und die Ueberlieferung der Cultur von Geschlecht zu Ge-<lb/>
schlecht <hi rendition="#g">erblich</hi> geworden ist.</p><lb/>
          <p>Die Entstehung eines Volkes setzt einen <hi rendition="#g">politischen</hi><lb/>
Procesz, eine Statenbildung voraus, und kann daher, am<lb/>
sichersten freilich auf nationaler Grundlage, auch rasch durch<lb/>
eine neue Organisation vollzogen werden.</p><lb/>
          <p>Bei der Bildung der Nationen wirken durchweg mehrere<lb/>
Kräfte und Factoren zusammen, welche geeignet sind, die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0110] Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur. die Wörter Volk und populus weisen eher auf das öffentliche Gemeinwesen (πόλις, res publica) hin. Demgemäsz waren die Deutschen im Mittelalter zugleich eine Nation und ein Volk und in den letzten Jahrhunderten wohl eine grosze in vielerlei Staten und Länder, beziehungs- weise Völker zertheilte Nation, aber es gab kein deutsches Volk mehr. Heute ist das deutsche Volk wieder erstanden, aber auszerdem sind noch einzelne Theile der deutschen Nation Bestandtheile auszerdeutscher Völker und Staten. Ob- wohl das nationale Bewusztsein in unserer Zeit stärker ist, als in irgend einer früheren Periode, so decken sich auch heute noch die Begriffe Nation und Volk nirgends völlig. Der Umfang und die Grenzen beider sind nicht dieselben. Die Nationen und die Völker sind Bildungen der Ge- schichte. Die Entstehung einer Nation volizieht sich lang- sam, durch einen psychologischen Procesz, welcher all- mählich in einer Masse Menschen eine unterscheidende Da- seinsform und Lebensgemeinschaft hervorbringt und in der erblichen Rasse befestigt. Niemals ist aus einer willkürlich zusammen gerotteten oder geworbenen Menge Menschen eine Nation entstanden. Auch die freie Willensübereinkunft und der gesellschaftliche Vertrag von vielen Individuen vermag nicht, eine Nation zu schaffen. Zu ihrer Bildung müssen die Erlebnisse und Schicksale von mehreren Generationen zu- sammen wirken, und sie hat erst dann Bestand gewonnen, wenn ihre Eigenart durch die Fortpflanzung der Familien und die Ueberlieferung der Cultur von Geschlecht zu Ge- schlecht erblich geworden ist. Die Entstehung eines Volkes setzt einen politischen Procesz, eine Statenbildung voraus, und kann daher, am sichersten freilich auf nationaler Grundlage, auch rasch durch eine neue Organisation vollzogen werden. Bei der Bildung der Nationen wirken durchweg mehrere Kräfte und Factoren zusammen, welche geeignet sind, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/110
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/110>, abgerufen am 21.11.2024.