schiedenen Erklärungen erstaunen, welche die ver- nünftigsten Philosophen von dem Begriffe der Ver- nunft geben. Nach einigen ist sie ein ganz besonde- res, dem Menschen allein eigenes Seelenvermögen, nach andern wenigstens ein ungemeiner und vorzüg- licher Grad desselben, von dem man in der thierischen Seele nur schwache Spuren vorfinde. Nach diesen ist sie der Einigungspunkt aller höheren Vermögen des menschlichen Geistes, nach jenen eine besondere Richtung der geistigen Vermögen des Menschen, u. s. f. Unser ist's nicht unter diesen so wichtige Streite zu schlichten. Kürzer aber und sicherer, glaube ich, kann man diese Untersuchung abthun, wenn man a posteriori, wie es heißt, diesen Vorzug des Menschen darein setzt, daß er ihn zum Herrscher und Herrn der übrigen Thiere macht 34). Daß er diese Herrschaft habe, liegt am Tage. Eben so offenbar aber ist es, daß die Ursache dieser Herrschaft nicht in der körperlichen Kraft des Menschen liege. Sie muß also einzig auf die Geistesgaben und deren Vorzüge bezogen werden. Und diese Gaben, durch welche nun der Mensch vor allen übrigen Thieren den Vorrang hat, mögen sie übrigens von welcherley Art und Natur seyn, wol- len wir Vernunft nennen.
Die
34) Wer auch immer das Loos des Menschen unter seiner Würde schätzt, der bedenke, welche wichtige Vorzüge unser Vater uns verlieben hat, wie wir weit stärkere Thiere unterjochen, weit schnellere verfolgen, wie alles, was irrdisch ist, unsern Streichen unter- liegt. Seneca.
ſchiedenen Erklaͤrungen erſtaunen, welche die ver- nuͤnftigſten Philoſophen von dem Begriffe der Ver- nunft geben. Nach einigen iſt ſie ein ganz beſonde- res, dem Menſchen allein eigenes Seelenvermoͤgen, nach andern wenigſtens ein ungemeiner und vorzuͤg- licher Grad deſſelben, von dem man in der thieriſchen Seele nur ſchwache Spuren vorfinde. Nach dieſen iſt ſie der Einigungspunkt aller hoͤheren Vermoͤgen des menſchlichen Geiſtes, nach jenen eine beſondere Richtung der geiſtigen Vermoͤgen des Menſchen, u. ſ. f. Unſer iſt’s nicht unter dieſen ſo wichtige Streite zu ſchlichten. Kuͤrzer aber und ſicherer, glaube ich, kann man dieſe Unterſuchung abthun, wenn man a poſteriori, wie es heißt, dieſen Vorzug des Menſchen darein ſetzt, daß er ihn zum Herrſcher und Herrn der uͤbrigen Thiere macht 34). Daß er dieſe Herrſchaft habe, liegt am Tage. Eben ſo offenbar aber iſt es, daß die Urſache dieſer Herrſchaft nicht in der koͤrperlichen Kraft des Menſchen liege. Sie muß alſo einzig auf die Geiſtesgaben und deren Vorzuͤge bezogen werden. Und dieſe Gaben, durch welche nun der Menſch vor allen uͤbrigen Thieren den Vorrang hat, moͤgen ſie uͤbrigens von welcherley Art und Natur ſeyn, wol- len wir Vernunft nennen.
Die
34) Wer auch immer das Loos des Menſchen unter ſeiner Wuͤrde ſchaͤtzt, der bedenke, welche wichtige Vorzuͤge unſer Vater uns verlieben hat, wie wir weit ſtaͤrkere Thiere unterjochen, weit ſchnellere verfolgen, wie alles, was irrdiſch iſt, unſern Streichen unter- liegt. Seneca.
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ſchiedenen Erklaͤrungen erſtaunen, welche die ver-
nuͤnftigſten Philoſophen von dem Begriffe der Ver-
nunft geben. Nach einigen iſt ſie ein ganz beſonde-
res, dem Menſchen allein eigenes Seelenvermoͤgen,
nach andern wenigſtens ein ungemeiner und vorzuͤg-
licher Grad deſſelben, von dem man in der thieriſchen
Seele nur ſchwache Spuren vorfinde. Nach dieſen
iſt ſie der Einigungspunkt aller hoͤheren Vermoͤgen
des menſchlichen Geiſtes, nach jenen eine beſondere
Richtung der geiſtigen Vermoͤgen des Menſchen,
u. ſ. f.
Unſer iſt’s nicht unter dieſen ſo wichtige Streite
zu ſchlichten.
Kuͤrzer aber und ſicherer, glaube ich, kann man dieſe
Unterſuchung abthun, wenn man a poſteriori, wie
es heißt, dieſen Vorzug des Menſchen darein ſetzt,
daß er ihn zum Herrſcher und Herrn der uͤbrigen
Thiere macht 34). Daß er dieſe Herrſchaft habe,
liegt am Tage. Eben ſo offenbar aber iſt es, daß
die Urſache dieſer Herrſchaft nicht in der koͤrperlichen
Kraft des Menſchen liege. Sie muß alſo einzig auf
die Geiſtesgaben und deren Vorzuͤge bezogen werden.
Und dieſe Gaben, durch welche nun der Menſch vor
allen uͤbrigen Thieren den Vorrang hat, moͤgen ſie
uͤbrigens von welcherley Art und Natur ſeyn, wol-
len wir Vernunft nennen.
Die
34) Wer auch immer das Loos des Menſchen unter
ſeiner Wuͤrde ſchaͤtzt, der bedenke, welche wichtige
Vorzuͤge unſer Vater uns verlieben hat, wie wir weit
ſtaͤrkere Thiere unterjochen, weit ſchnellere verfolgen,
wie alles, was irrdiſch iſt, unſern Streichen unter-
liegt. Seneca.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
"Über die natürlichen Verschiedenheiten im Mensch… [mehr]
"Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte" ist die überarbeitete Fassung von Blumenbachs Dissertationsschrift "De generis humani varietate nativa" (1. Aufl. 1775 bei Friedrich Andreas Rosenbusch in Göttingen). Die Dissertation erschien in lateinischer Sprache; für das DTA wurde Johann Gottfried Grubers Übersetzung der dritten Auflage von Blumenbachs Dissertation (1795 bei Vandenhoek & Ruprecht) digitalisiert, die 1798 in Leipzig bei Breitkopf & Härtel erschien. Erstmals lag hiermit Blumenbachs Werk "De generis humani varietate nativa" in deutscher Sprache vor.
Blumenbach, Johann Friedrich: Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Leipzig, 1798, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/blumenbach_menschengeschlecht_1798/84>, abgerufen am 27.07.2024.
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