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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Fleiß und Gewissenhaftigkeit Wilhelms I. Menschenverstand.
um ihm in dem kleinen Zimmer vor der Loge Vorträge zu halten,
und Unterschriften entgegennehmen. Obschon er der Nachtruhe
dermaßen bedürftig war, daß er schon über eine schlechte Nacht
klagte, wenn er zweimal, und über Schlaflosigkeit, wenn er dreimal
erwacht war, so habe ich niemals den leisesten Zug von Verdrie߬
lichkeit wahrgenommen, wenn man ihn unter schwierigen Verhält¬
nissen um 2 oder 3 Uhr weckte, um eine eilige Entscheidung zu
erbitten.

Neben dem Fleiße, zu dem ihn sein hohes Pflichtgefühl trieb,
kam ihm in Erfüllung seiner Regentenpflicht ein ungewöhnliches
Maß von klarem, durch Erlerntes weder unterstützten noch beein¬
trächtigten gesunden Menschenverstande, common sense, zu Statten.
Hinderlich für das Verständniß der Geschäfte war die Zähigkeit,
mit der er an fürstlichen, militärischen und localen Traditionen
hing; jeder Verzicht auf solche, jede Wendung zu neuen Bahnen,
wie sie der Lauf der Ereignisse nothwendig machte, wurde ihm
schwer und erschien ihm leicht im Lichte von etwas Unerlaubtem
oder Unwürdigem. Wie an Personen seiner Umgebung und an
Sachen seines Gebrauchs, so hielt er auch an Eindrücken und
Ueberzeugungen fest, unter der Mitwirkung der Erinnerung an das,
was sein Vater in ähnlichen Lagen gethan hatte oder gethan
haben würde; insbesondre im französischen Kriege hatte er die
Erinnerung an den parallelen Verlauf der Freiheitskriege immer
vor Augen.

König Wilhelm, der mich während der schleswig-holsteinischen
Episode einmal vorwurfsvoll fragte: "Sind Sie denn nicht auch ein
Deutscher?" weil ich mich seiner durch häusliche Einflüsse bedingten
Neigung, ein neues gegen Preußen stimmendes Großherzogthum in
Kiel zu schaffen, widersetzte, derselbe Herr war, wenn er, ohne durch
politische Gedanken angekränkelt zu sein, in naturwüchsiger Freiheit
seinen Empfindungen folgte, einer der entschlossensten Particularisten
unter den deutschen Fürsten, in der Richtung eines patriotischen
und conservativ gesinnten preußischen Offiziers aus der Zeit seines

Fleiß und Gewiſſenhaftigkeit Wilhelms I. Menſchenverſtand.
um ihm in dem kleinen Zimmer vor der Loge Vorträge zu halten,
und Unterſchriften entgegennehmen. Obſchon er der Nachtruhe
dermaßen bedürftig war, daß er ſchon über eine ſchlechte Nacht
klagte, wenn er zweimal, und über Schlafloſigkeit, wenn er dreimal
erwacht war, ſo habe ich niemals den leiſeſten Zug von Verdrie߬
lichkeit wahrgenommen, wenn man ihn unter ſchwierigen Verhält¬
niſſen um 2 oder 3 Uhr weckte, um eine eilige Entſcheidung zu
erbitten.

Neben dem Fleiße, zu dem ihn ſein hohes Pflichtgefühl trieb,
kam ihm in Erfüllung ſeiner Regentenpflicht ein ungewöhnliches
Maß von klarem, durch Erlerntes weder unterſtützten noch beein¬
trächtigten geſunden Menſchenverſtande, common sense, zu Statten.
Hinderlich für das Verſtändniß der Geſchäfte war die Zähigkeit,
mit der er an fürſtlichen, militäriſchen und localen Traditionen
hing; jeder Verzicht auf ſolche, jede Wendung zu neuen Bahnen,
wie ſie der Lauf der Ereigniſſe nothwendig machte, wurde ihm
ſchwer und erſchien ihm leicht im Lichte von etwas Unerlaubtem
oder Unwürdigem. Wie an Perſonen ſeiner Umgebung und an
Sachen ſeines Gebrauchs, ſo hielt er auch an Eindrücken und
Ueberzeugungen feſt, unter der Mitwirkung der Erinnerung an das,
was ſein Vater in ähnlichen Lagen gethan hatte oder gethan
haben würde; insbeſondre im franzöſiſchen Kriege hatte er die
Erinnerung an den parallelen Verlauf der Freiheitskriege immer
vor Augen.

König Wilhelm, der mich während der ſchleswig-holſteiniſchen
Epiſode einmal vorwurfsvoll fragte: „Sind Sie denn nicht auch ein
Deutſcher?“ weil ich mich ſeiner durch häusliche Einflüſſe bedingten
Neigung, ein neues gegen Preußen ſtimmendes Großherzogthum in
Kiel zu ſchaffen, widerſetzte, derſelbe Herr war, wenn er, ohne durch
politiſche Gedanken angekränkelt zu ſein, in naturwüchſiger Freiheit
ſeinen Empfindungen folgte, einer der entſchloſſenſten Particulariſten
unter den deutſchen Fürſten, in der Richtung eines patriotiſchen
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[281/0305] Fleiß und Gewiſſenhaftigkeit Wilhelms I. Menſchenverſtand. um ihm in dem kleinen Zimmer vor der Loge Vorträge zu halten, und Unterſchriften entgegennehmen. Obſchon er der Nachtruhe dermaßen bedürftig war, daß er ſchon über eine ſchlechte Nacht klagte, wenn er zweimal, und über Schlafloſigkeit, wenn er dreimal erwacht war, ſo habe ich niemals den leiſeſten Zug von Verdrie߬ lichkeit wahrgenommen, wenn man ihn unter ſchwierigen Verhält¬ niſſen um 2 oder 3 Uhr weckte, um eine eilige Entſcheidung zu erbitten. Neben dem Fleiße, zu dem ihn ſein hohes Pflichtgefühl trieb, kam ihm in Erfüllung ſeiner Regentenpflicht ein ungewöhnliches Maß von klarem, durch Erlerntes weder unterſtützten noch beein¬ trächtigten geſunden Menſchenverſtande, common sense, zu Statten. Hinderlich für das Verſtändniß der Geſchäfte war die Zähigkeit, mit der er an fürſtlichen, militäriſchen und localen Traditionen hing; jeder Verzicht auf ſolche, jede Wendung zu neuen Bahnen, wie ſie der Lauf der Ereigniſſe nothwendig machte, wurde ihm ſchwer und erſchien ihm leicht im Lichte von etwas Unerlaubtem oder Unwürdigem. Wie an Perſonen ſeiner Umgebung und an Sachen ſeines Gebrauchs, ſo hielt er auch an Eindrücken und Ueberzeugungen feſt, unter der Mitwirkung der Erinnerung an das, was ſein Vater in ähnlichen Lagen gethan hatte oder gethan haben würde; insbeſondre im franzöſiſchen Kriege hatte er die Erinnerung an den parallelen Verlauf der Freiheitskriege immer vor Augen. König Wilhelm, der mich während der ſchleswig-holſteiniſchen Epiſode einmal vorwurfsvoll fragte: „Sind Sie denn nicht auch ein Deutſcher?“ weil ich mich ſeiner durch häusliche Einflüſſe bedingten Neigung, ein neues gegen Preußen ſtimmendes Großherzogthum in Kiel zu ſchaffen, widerſetzte, derſelbe Herr war, wenn er, ohne durch politiſche Gedanken angekränkelt zu ſein, in naturwüchſiger Freiheit ſeinen Empfindungen folgte, einer der entſchloſſenſten Particulariſten unter den deutſchen Fürſten, in der Richtung eines patriotiſchen und conſervativ geſinnten preußiſchen Offiziers aus der Zeit ſeines

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/305>, abgerufen am 24.11.2024.